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Vom Baum der Erkenntnis geschnitten
Christoph Schlingensiefs Animatograph macht Fresspause in Neuhardenberg
Berliner Zeitung, 22.8.2005
Ulrich Seidler Fünfeinhalb Stunden nach der Abfahrt mit dem Shuttle-Bus vom Ostbahnhof und fünfeinhalb Minuten vor der Rückfahrt vom ehemaligen Militärflughafen Neuhardenberg stellte sich doch noch eine geradezu bezaubernde Wirkung ein, die offenbar auch Patti Smith ergriffen hatte. Sie konnte ihr Wiedersehen mit dem verwesenden Hasen, der es ihr in Bayreuth so angetan hatte, ganz allein feiern und teilte ihre Beglückung durchs Megafon mit. Die Beschäftigungen herkömmlicher Besucher von Christoph Schlingensiefs riesiger begehbarer Installation "Der Animatograph - Odins Parsipark" bestanden vor allem in verschiedenen Spielarten des Drängelns und des Wartens. Bevor er Gelegenheit zur Kontemplation bekam, hatte er sich einem Wechselbad mitmenschlicher Umgangsformen zu unterziehen: vom Smalltalk beim Garnelenspieß bis zur gemeinsamen Nazipornorezeption auf einem Karussell.
Aber dann: Beim Anblick des Vollmonds über den grünen, an Mutter Erde gekuschelten Flugzeughangars und vor allem beim Lauschen auf das Geräuschgemisch, das der Animatograph in die Nacht schreit, fließt das im Schädel gestaute Bildersammelsurium direkt ins Unbewusste ab, um dort sein Wesen zu treiben, von dem naturgemäß hier nicht die Rede sein kann. Es scheint, als würfe die Silberscheibe den Klangkloß zurück: übersteuerte Wagner-Musik, perforiertes Adorno-Gelaber, Adriano Celentanos "Azuro", dazu ein Streit zwischen Parsifal und seiner Mutter Herzeleide und Nasa-Kontrollgeknarze; alles überbietend aber das herzzerreißende Todesgekreisch eines Schweins, das sich schließlich - wohl unter den milden Rufen eines warmstimmigen Muezzin - in sein Ende findet und mit einem Seufzer Abschied nimmt, den ein Mensch in solcher Situation nicht weiser hinkriegen würde.
Es ist zwecklos, hier erklären zu wollen, worum es sich bei dem Animatographen eigentlich handelt - damit hat der Künstler schon genug Mühe. Verstehen wird man das Ding sowieso erst, wenn es einen verdaut hat. Nur so viel: Es ist ein ziemlich chaotischer Haufen von zerschlagenen, überfrachteten, zusammengeleimten Zeichen (tote Rehe, Hasen und Fische, Baumarktmaterial, viel Wortgepinsel, eine schön dicke schwarze Frau, ein paar Laien in Hitler-Uniform, Hochstände, Schrottkisten, eine Aufblaskirche, eine Hühnerabschussrampe, eine betretbare Vagina und Ähnliches). Durch diesen Haufen hat der Künstler eine nicht weiter nachvollziehbare motivische Schneise geschlagen.
Es verdürbe geradezu das Spiel, wenn man eine Betrachtungsstrategie favorisierte. Dennoch bietet sich die Geschichte von Odin als Schlüssel an. Der Allvater hing - sich selber zum Opfer geweiht - neun Tage kopfüber an der Weltenesche, bevor er vom Baum fiel und die Runen kannte: "Zu gedeihen begann ich und begann zu denken, wuchs und fühlte mich wohl."
Dem Animatographen geht es auch gut: Dieser, wie Schlingensief betont, lebende Organismus wandert durch die Welt, frisst ortsübliche Symbolträger und setzt ordentlich Assoziationsmasse an. Er kommt aus Bayreuth, wo er von Schlingensiefs "Parsifal"-Inszenierung genascht hat, machte in Island Station, wo sich der terroristische Vogel Strauß dazugesellte, und soll, nachdem er sich in Neuhardenberg mit Nazi- und DDR-Geschichte aufgeladen hat, weiterwandern über Namibia und Wien nach Reykjavik.
Zugegeben sei, dass nicht alle Betrachter so lange brauchen, bis es funkt, sondern dass sich die Wirkung individuell entfaltet. So lacht sich eine Dame schon bei den einleitenden Worten des eloquenten Künstlers schlapp. So hob ein Herr gedanklich ab, als der Bus über die Startbahn des versteckten Flugplatzes bretterte, und erinnerte daran, dass hier schon Wernher von Braun an der V2 herumgebastelt habe. Anderen mag sich der mythische Weltzusammenhang beim Anblick eines Films erschließen, den Schlingensief auf dem Gelände ausgegraben haben will, und der detailliert bis zu den Diktatorenschwengeln zeigt, dass Hitler und Stalin eine sexuelle Beziehung pflegten. Wieder anderen geht ein Licht auf, wenn sie mit dem Huhn mitfiebern, das zu seiner Überraschung als Zugvogel engagiert wurde und mit einem Ballon als Vorhut in Richtung Afrika auf die Reise geschickt wird. Dagegen ist so eine Shuttle-Reise gar nichts.
Materialübersicht zum Animatograph Odins Parsipark
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Parsipark Dossier
- Programmheft zum Parsipark (PDF)
- Interview von Gerhard Ahrens
- Anleitung zum Selbstritual
- Pressemitteilung
- Vorabbericht
- Muezzin: Die Feigenbäume (PDF)
- Pressemitteilung der NASA (PDF)
- Parsipark Plakat (PDF)
- Animatographie als demokratische Projektion (PDF)
- Pressemappe: hochaufgelöstes Bildmaterial (ZIP)
Bilderstrecken
- Die Premiere
- Dreharbeiten zu Odins Parsipark
- Planskizzen
Pressestimmen
- Salzburger Nachr.
- Frankfurter R. (PDF)
- FAZ (PDF)
- Berliner Ztg. (PDF)
- Tageszeitung (PDF)
- Die Welt (PDF)
- Der Standard (DOC)
- Süddeutsche (PDF)
- Tagesspiegel (PDF)
- Sächsische Ztg. (PDF)
- Berliner Mopo (PDF)
- Märkische Allg. (PDF)
- Radiokritik DLF, WDR, RBB (MP3)
Verwandte Projekte
- Animatograph Island Edition
- Animatograph Afrika Edition
Externe Links
- Stiftung Schloss Neuhardenberg
- tba-21 Homepage
DER ANIMATOGRAPH – ODINS PARSIPARK
Kampf der Götter – Die Reise zum Mittelpunkt der Erde
Deutschland-Edition – »Midgard -> Ragnarök / Götterdämmerung«
Erste ur-animatographische Installation mit sechs Aktionen
Stiftung Schloss Neuhardenberg
19., 20., 21., 26., 27., 28. August 2005
Regie: Christoph Schlingensief
Bühne: Tobias Buser; Aufbau, Technik: Udo Havekost, Harry Johansson;
Kostüme, Fotos: Aino Laberenz;
Requisite: Markus M. Thormann;
Video: Meika Dresenkamp, Kathrin Krottenthaler;
Dramaturgie: Jörg van der Horst;
Regieassistenz: Hedwig Pottag;
Kostümassistenz: Lisa Kentner;
Internet: Jens Gerstenecker;
Künstlerische Beratung: Henning Nass;
Produktionsleitung: Celina Nicolay
Darsteller: Björn Thors, Sachiko Hara, Klaus Beyer, Karin Witt, Horst Gelloneck, Maria Baton, Helga von Paczenski, Achim von Paczenski, Andrea Erdin, Jürgen Drenhaus
Und erstmals, als Wernher von Braun: Markus M. Thormann
Technik: Matthias Warias;
Ton: Jens Voigtländer;
Video-Technik: Jens Crull;
Beleuchter: Hans Wiedemann;
Licht: Voxi Baerenklau
Produktion: Kristjan Schmitt; Produzent: Martin Siebert;
Technische Leitung:Thomas Schröder;
Hospitant: Johannes Maxim Zarnikow;
Produktionsfahrerin: Julia Egloff;
Betreuer Horst: Rainer Lembke, Björn Drese
Eine Produktion der Stiftung Schloß Neuhardenberg und von Christoph Schlingensief in Zusammenarbeit mit Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Vienna |
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