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"Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen"
Christoph Schlingensief beschwört in seinem Projekt "Kunst und Gemüse, A. Hipler" Theater als Krankheit
Eigentlich hätte es ein "Volks-Parsifal" werden sollen. Nach seinem ebenso umstrittenen wie gefeierten Debüt als Opernregisseur auf dem Grünen Hügel wollte Christoph Schlingensief Richard Wagners "Bühnenweihfestspiel" für die Berliner Volksbühne nachbereiten: Bayreuth in Berlin, Oper für alle, Wagner fürs Volk. Doch was du in Bayreuth bist (und darfst), bist (und darfst) du durch Verträge, und die knebeln auch einen notorischen Quertreiber wie Schlingensief.
Aus "urheberrechtlichen Gründen" wurde es daher nichts mit dem "Parsifal" für die Berliner Mitte, was Schlingensief nicht davon abhielt, sich einer anderen Oper zuzuwenden: Arnold Schönbergs Zwölfton-Einakter "Von heute auf morgen" aus dem Jahr 1930. Auf den ersten Blick eine völlig andere Baustelle. Der Zusammenhang erschließt sich jedoch, wenn man, wie Theodor W. Adorno, in Schönbergs polyphoner Kurzoper den endgültigen "Bruch mit dem Wagnerschen Funktionalismus" sieht, eine Abrechnung "mit dem fließenden, funktionellen Wagner-Klang".
Für Schlingensief ist es darüber hinaus eine Abrechnung: mit der bürgerlichen Kunstform Oper im Allgemeinen, die er unter dem Titel "Kunst und Gemüse, A. Hipler" in eine multimediale, multikontinentale Ausstellung von Gesamtkunst oder sagen wir: performativer Lebenskunst überführt - und mit dem Bayreuther Festspielchef Wolfgang Wagner im Speziellen, den er samt Gattin Gudrun und Tochter Katharina nicht nur parodiert, sondern auch aus Briefen zitiert. Wagner heißt hier zwar Bach und kriegt eine Pappnase aufgesetzt, ist aber als lebensechte Kopie seiner an der Wand klebenden Fotografie unschwer wiederzuerkennen und macht auch in seinen Mahnschreiben an den Regisseur keinen Hehl aus seiner Chefmacht "im Sinne der Festspiele": Alles verwendete Material müsse ""von Ansprüchen Dritter" frei sein, "im übrigen gilt die Hausordnung 2004".
Schlingensief fungiert offiziell gar nicht als Regisseur, sondern als "Kurator" und "Produzent". Die Regie im wildwuchernden Kunst- und Gemüsegarten hat er dem aus Simbabwe stammenden Afrikaner Hosea Dzingirai übertragen, den er in Namibia kennen lernte, als er Material für seinen "Parsifal" sammelte. Dzingirai nimmt an einem Regiepult in der ersten Reihe Platz und greift öfters erläuternd ins Geschehen ein.
Von der Bühne führt ein Steg ins Parkett, auf dem die für die "Gesamtsteuerung" zuständige Angela Jansen in ihrem Krankenbett liegt. Die 48-Jährige leidet seit zehn Jahren an Amyothropher Lateralsklerose, einer chronischen Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zum Schwund der Muskulatur, zur Lähmung des Sprechens, Schluckens und der Atmung führt. Jansen kann nur über die Augen kommunizieren, mit denen sie einen Schriftcomputer bedient. Auf diese Weise steuert sie Informationen über ihre Krankheit und Kommentare zur Aufführung bei.
Von ihr stammt auch der Satz "Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen", der dem Projekt gewissermaßen als Motto zugrunde liegt. Der Maler Jörg Immendorff, der ebenfalls an ALS leidet, hat diesen Satz für das Plakat verwendet, das er eigens zur Inszenierung entworfen hat. Es wird an der Volksbühne zugunsten der ALS-Forschung verkauft.
"Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen" - diese Diagnose stellt Doktor Schlingensief auch dem Patienten Theater, der sich an diesem Abend dann aber als quicklebendig und in seiner Verklinkung der verschiedensten Kunstgattungen als höchst bewegungsfreudig erweist. "Kunst und Gemüse" - das heißt zwar auch Kraut und Rüben, doch fügt sich das Sammelsurium aus Film-, Musik- und Kunstzitaten nebst Anspielungen auf die Flick-Collection zu mehr als einem Potpourri. Es ist, alles in allem, ein Gesamtkunstwerk.
Den Rahmen gibt Schönbergs Kurzoper vor, die von professionellen Musikern und Sängern in Ausschnitten live vorgetragen wird, während auf Videowänden ein Stummfilm im Stil der vierziger Jahre läuft, in dem Irm Herrmann und Udo Kier in Schwarzweiß-Großaufnahmen als verstörtes Ehepaar zu sehen sind. Schönberg polemisiert in seiner Oper anhand eines banalen Ehestreits über das "Modische", das doch nur "von heute auf morgen" lebt. Der Ehemann ließ sich auf einer Party von einer mondänen Dame bezirzen, woraufhin ihm seine Frau mal zeigt, was los wäre, wenn sie selber auf mondän machen würde. Am Ende siegt die bürgerliche Zweisamkeit, gipfelnd in der Frage des Kindes: "Mama, was sind das, moderne Menschen?"
Moderne Menschen, antwortet Schlingensief, haben keinen Rückzugsort, außer sie begreifen das Leben als Kunst und die Kunst als Freiheit, ungeachtet dessen, was in irgendwelchen "Hausordnungen" steht. So geht es hier auch darum, das Tonale solange ins Atonale zu verwandeln, bis etwas Totales entsteht. Und sei es auch nur das totale Chaos.
Schlingensiefs Protagonisten - Laien, Sonderlinge, Freaks - verkörpern selbst eine polyphone Partitur: Sie stellen zwölf Töne dar, vom C über das Fis bis hin zum H, erweitert um ein W als Wiederholungselement. W wie Wolfgang. Wie Wagner. Wie "Wir": "We are the world / we are the children", singen sie im Chor, weil die Oper weder Pop noch Musicalanleihen scheut. Die Bühne, die ein Podium für Wagnerianer neben den Insignien eines bürgerlichen Salons zeigt, öffnet sich zu einer mit Flickscher Sammelwut vollgestellten Drehbühne. Mal ist eine Hinterhoftreppe vor Gemäuer zu sehen, mal ein Wohnmobil in Kabul, zwei Türme aus weißem Tuch stellen das World Trade Center nach. Wer will, kann in den Bildern und Installationen auch seinen Kippenberger und Duchamp erkennen. Theater als lebende Kunstausstellung: die Schlingensief-Collection.
Alles führt immer wieder nach Bayreuth zurück - auf "zwölf Wegen zur Erstarrung". Wegweisend hierfür sind die Doubles der Familie Wagner: Wolfgang als Grußonkel, Gudrun als Podiumsreferentin, Katharina als kesses Flittchen, das vergeblich aus der Familie auszubrechen versucht. Sie verzehrt sich nach Jean-Luc Godard, der einen Film über den 11. September dreht, was in einem bilderwuchtigen Worst-Case-Szenario: Die Türme tanzen und gehen in Rauch auf, eine ausgefeilte Video-Technik vermixt Ausschnitte aus King Kong-Filmen zu einer apokalyptischen Geisterbahn-Collage. Große Oper, die vor allem im Kleinen stimmt. Hier wird Kunst als Schmerztherapie betrieben. Was nicht nur gut tut, sondern auch etwas Anrührendes hat.
CHRISTINE DÖSSEL
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.269, Freitag, den 19. November 2004 , Seite 14
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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