|
|
|
|
|
Das Theater ist krank
Christoph Schlingensief zeigt an der Berliner Volksbühne die Krise des Theaters, deren Symptom er selbst ist.
Von Elke Vogel
Die Hauptdarstellerin liegt in einem Bett mitten im Publikum. Angela Jansen leidet an der Nervenkrankheit ALS, seit zehn Jahren ist sie gelähmt. Per augengesteuerter Computertechnik kommuniziert die 48-Jährige in Christoph Schlingensiefs Theaterprojekt «Kunst und Gemüse, A. Hipler. Theater ALS Krankheit» mit ihren Mitspielern und den Zuschauern. «Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen», sagt Angela Jansen. Schlingensief überträgt ihre Aussage auf die Lage an den deutschen Bühnen: «Mit einem einzigen Satz beschreibt sie den Zustand des Theaters, ohne dass es gemeint war.» Theater als Krankheit: Die wichtigsten Diagnosen treffe man dort, wo man gar nicht geforscht habe.
Am Mittwochabend war die Uraufführung der Performance an der Berliner Volksbühne, der Applaus des Publikums freundlich. Dem «Patient Theater» geht es auch in dem von Schlingensief und dem aus Simbabwe stammenden Regisseur Hosea Dzingirai gemeinsam erarbeiteten Stück nicht besonders gut. Auf der Grundlage von Arnold Schönbergs Oper «Von heute auf morgen» haben sie eine Mischung aus Kunstausstellung, Film, Musik- und Sprechtheater inszeniert. Der ebenfalls an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) leidende Maler Jörg Immendorff, ein Freund Schlingensiefs, schuf das Plakat zu dem Theaterprojekt. Eine Handlung gibt es nicht, es ist eher ein wildes Panoptikum. Die Zuschauer sollen sich die Aufführung ansehen, als wären sie in einer Kunstausstellung, so will es Schlingensief. Der Unterschied sei nur, dass in diesem Fall sich nicht die Besucher an den Kunstwerken vorbeibewegen, sondern andersherum. Als «Kunstwerke» treten Laien und professionelle Schauspieler auf. Eine kleinwüchsige Frau und ein Behinderter sind dabei. Außerdem die bereits in Schlingensiefs Bayreuther «Parsifal»-Inszenierung als «Urmutter» erschienene dicke Dame, die wieder viel nackte Haut zeigt.
Oft weiß der Zuschauer gar nicht, wo er zuerst hinschauen soll: Es gibt Videos auf zwei großen Leinwänden und dem roten Samtvorhang. Dazu die Einblendungen der per Augen-Zwinkern übermittelten Beiträge von Angela Jansen. Sie erzählt von ihrer «Nicht-Krankheit», ihren Erfahrungen mit Ärzten und dem Stand der Forschung. Sänger und Musiker führen daneben in einem spießigen Wohnzimmer-Interieur kurze Stücke aus Schönbergs Oper auf. Vor einer New Yorker Getto-Szenerie wackeln die Türme des World-Trade-Centers.
Ein Double von Johannes Heesters wird zu seinem Verhalten während der Nazi-Zeit befragt. Doppelgänger von Wolfgang Wagner und Jean-Luc Godard treten auf, per Video melden sich gleich mehrere Hitlers. Meist passiert alles gleichzeitig. Die Bilder stehen in keinem Zusammenhang und bleiben beliebig. Dazwischen springt Dzingirai immer wieder auf die Bühne und gibt Anweisungen. Schlingensief fungiert als «Produzent» und «Kurator». Zum Schlussapplaus ist er aber auf der Bühne, und eine von Angela Jansens letzten Botschaften lautet: «Ich grüße dich, Jörg Immendorff!»
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
|
|
|
|
|
Kunst & Gemüse
- zurück zur Übersicht
- Gastspiel 2006 in Paris
Bilderstrecken
- Kunst & Gemüse Bildergalerie
- Gastspiel in Paris Bildergalerie
KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
|
|
|
|
|