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Die Ost-West-Kiste ist geschlossen
Nach Bayreuth wieder zurück in Berlin: Christoph Schlingensief spricht über sein neues Stück, die Volksbühne, Wagner, Krankheit und Tod
Warum der Titel? Um was geht es im Stück "Kunst & Gemüse, A.Hipler"?
"Kunst und Gemüse" - das habe ich vor einem Jahr bei einer Aktion auf ein Bild geschrieben. Es geht um die Suche nach "dem modernen Menschen", wie es bei Schönberg heißt. Was ist modern? Der Hartz-IV-Arbeitslose, Schröder, "Wetten daß...?" oder die Titelseite des Tagesspiegels als H&M-Werbung? Des weiteren geht es um die Unterstellung, dass ich selbst modern sei. Das will ich anhand meiner Ansichten von Prenzlauer Berg, Berliner Republik und Heimat widerlegen. Kurz: Das Leitmotiv ist "tonal und atonal". Schönberg für heute und morgen, als atonale Antwort auf Wagner.
Wie fühlt es sich an, zurück in der alten Heimat Volksbühne zu sein?
Eigentlich wollte ich nach Bayreuth gar nicht gleich zurück in mein Wohnzimmer. Aber die Proben sind toll. Bühne, Maske, Kostüm, Technik, alles funktioniert prima. So gut wie noch nie. Vielleicht auch weil die Volksbühne gerne wüsste wie es weitergeht. Nach über 10 Jahren als einzigem Ort für wirkliche Theaterforschung fragt man sich plötzlich, wo diese Kraft herkam und wie man sie weiterentwickeln kann. Die Ost-West-Kiste ist geschlossen und hat ein Vakuum hinterlassen. Einfach mal ein philosophisches Dreigestirn ins Foyer setzen, das funktioniert auch nicht mehr. Viele Gedanken sind verbraucht und als Ost-Vertretung zu fungieren klappt auch nicht mehr, seit der Kanzler selbst russische Waisenkinder adoptiert. Es ist eben alles nur Theater. Andere Theater haben sich schon lange auf Stillstand spezialisiert. Die Volksbühne kann aber mehr. Normales Theater ist für mich überholt und langweilig. Eine reaktionäre Einrichtung. Genauso wie Oper. In den Händen von angeblichen Traditionalisten. Mich langweilt es, ich gehe lieber in Ausstellungen. Ich habe eben nicht vor, irgendwann mit roter Nase unten in der Kantine zu sitzen und zu erzählen, dass ich hier früher mal "Tötet Helmut Kohl" geschrien habe. Diese Selbsttäuschung ist vorbei.
Deshalb spielen Sie ganz ohne Volksbühnen-Schauspieler?
Ja, dadurch hatten wir hier die tollsten Proben aller Zeiten. Wir haben keine Ensemble-Mitglieder. Endlich weg mit diesem verlogenen Pack. Professionelle Schauspieler handeln nur noch, um ihr Wissen um die Rolle zu verschleiern. Kaum einer von denen will wirklich anwesend sein. Und wenn es dann auf den Bühnen nicht klappt, dann werden sie Adolf Hitler und wackeln mit der Hand. Dann haben sie Erfolg. Erfolg, weil sie sich versteckt haben. Mich quält es, wenn die mir da oben was vorspielen. Die Zeit der Schauspieler geht langsam aber sicher zu Ende, da kommt noch Bewegung in den Arbeitslosenmarkt.
Sie führen zum ersten Mal nicht selbst Regie sondern fungieren offiziell nur als "Produzent", haben sogar eine schicke Mütze, auf der das steht.
Ja, die trage ich jetzt immer. Theater will dem Film ja immer ähnlicher werden, da muss man sich auch äußerlich anpassen. Während den Proben schreie ich den Regisseur Hosea Dzingirai an, dass das alles viel zu teuer ist mit diesen Massenszenen, dass das Budget explodiert und das Haus in Schutt und Asche liegt... Was ein Produzent eben so macht. Ich bin der Eichinger, Hosea ist der Hirschbiegl. Wenn ich anfange, im Halbdunkel der letzten Zuschauerreihe nervös zu rauchen, dann weiß er, was gemeint ist. Aber meine Projekte waren ja immer schon ein Organismus, der in Gang kam und außer Kontrolle geriet. Deshalb ist das gar nicht so wichtig. Ich rate Hosea aber immer: "Mach nicht zuviel Schlingensief!"
Sie spielen auch nicht mehr mit.
Nein, gleich nach der Premiere fliege ich nach Brasilien. Zum ersten Mal springe ich nicht selbst auf der Bühne herum. Ich hatte mich Hosea angeboten, aber er wollte mich nicht.
Wer gehört zur Besetzung?
Das sind fast nur Neulinge, in allen Fällen aber unverbrauchte Leute: Einen der beiden Sänger, Reami Rosignoli, habe ich in der Fußgängerzone in Oberhausen aufgelesen. Maria Baton hat mich ein Jahr lang beschimpft und genervt, dass sie unbedingt mit mir arbeiten will. Irgendwann hab ich dann gesagt: Zeig mal, was du kannst. Das hat sie getan und ich habe sie Hosea vorgeschlagen. Hinzu kommen drei Filme für "Kunst und Gemüse", die ich produziert habe. Darin treten unter anderem Udo Kier, Irm Hermann, Peter Kern und Corinna Harfouch auf. Und da ist noch Angela Jansen.
Die an ALS (Amyotrophe Laterialsklerose) erkrankt ist?
Ja. Angela Jansen liegt in ihrem Bett im Zuschauerrraum und führt Live-Regie. Sie schreibt mit Hilfe eines Laserauges auf einer Computertastatur. Ihre Anweisungen werden auf die Bühne übertragen und eingeblendet, man kann sie "sprechen sehen". Für mich ist Angela ein Referenzgast, der das Geschehen durch seine Augen beeinflusst. 1994 wurde ALS diagnostiziert, heute ist sie völlig bewegungsunfähig und wird seit 1998 künstlich beatmet. Ihre geistige Tätigkeit ist davon vollkommen unbetroffen. Die Blase funktioniert noch und die Augen. Über die Augen kommuniziert sie.
Wie kam es zur Zusammenarbeit?
Über Jörg Immendorf, der auch an ALS erkrankt ist. Jörg habe ich letztes Jahr bei der Biennale in Venedig kennen gelernt. Er hat auch das Plakat für "Kunst und Gemüse" gemalt. Er und Angela haben denselben Arzt hier an der Charité. ALS ist eine schreckliche Krankheit, die jeden treffen kann. Zwei Jahre nach der Diagnose ist man völlig bewegungslos. Dann setzt die Atmung aus und das war's. Unter www.als-charite.de kann man sich sehr anschaulich über ALS informieren.
Sie haben im Sommer den Parsifal in Bayreuth inszeniert. Die Kritiken waren erstaunlich wohlwollend. Überrascht?
Ja, mit so einem Erfolg habe ich nicht gerechnet. Ich dachte, ich komme da hin und dann beerdigen sie mich. Aber es ist wirklich gut geworden. Einige Opernleute hat es zu sehr erregt, weil sie lieber schlafen wollen. Aber deshalb ist die Oper auch so spannend. Sie hat die Leute seit Jahrzehnten unterfordert. Sie tut elitär, ist aber eigentlich extrem banal. Ich freue mich auf weitere Opernarbeiten im Ausland. Und was Bayreuth angeht, so bin ich wirklich stolz auf diese Arbeit. Nur schade, dass sie nur so wenig Leute sehen können. Da muss sich viel ändern in Bayreuth. Unmengen Fördergelder für ein kleines Grüppchen. Das wird sich ändern müssen. Ich bleibe am Ball.
Was hat sich für Sie durch die Wagnerfestspiele verändert?
Die größte Veränderung ist die viel höhere Aufmerksamkeit im Ausland. So deutsch, wie viele das gern hätten, kann Wagner also gar nicht sein. Die Leute haben angefangen, meine Bilder-Ebenen zu betrachten und nicht mehr nur den Provokateur zu sehen. Bayreuth war eine Zäsur. Ich habe in einem kleinen Töpfchen Drachenblut gebadet, aber einige Stellen waren abgedeckt von den Blättern meiner Lebensversicherung. Es gibt also noch verwundbare Punkte.
Das Gespräch führte Björn Trautwein.
Premiere von "Kunst & Gemüse, A. Hipler" heute 19.30 in der Volksbühne.
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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