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In der Moderne ist der Wurm drin
Christoph Schlingensief produziert an der Berliner Volksbühne "Kunst und Gemüse. A. Hipler"
Von Petra Schmidt-Wiborg
Berlin - Erneuerung ist der Schwerpunkt der Moderne. Vorgestern schrieben wir auf Schreibmaschinen, heute sind Laptops fernsehtauglich, übermorgen können wir uns den neuesten Computer aus Indien vielleicht nicht mehr leisten. So traditionsverankert sich das Theater auch ausnehmen mag, so wenig ist es doch frei von den Imperativen unserer Zeit. Auch der letzte Jungregisseur hat längst kapiert, dass es sehr hilft, sich selbst als Marke zu präsentieren. Es gilt, für das eigene "Projekt" ein unverwechselbares Logo zu kreieren: die Aura von etwas Neuem. Doch seit Duchamp ein Pissoir ins Museum gestellt hat, wird es immer schwieriger mit dem Neuen. Womöglich wird die Moderne hohl, wenn alles zur Inszenierung gemacht werden kann?
Ästhetische Ware
Genau an diesen Punkt verkauft der gleichnamige Künstler unter der Marke "Christoph Schlingensief" seine ästhetische Ware. Landläufig wird seine Kunst (oder er selbst) als Provokation bezeichnet. Wahr daran ist, dass es ihm immer wieder gelingt, Muster der Wahrnehmung und Vermarktung aufzu- brechen. Er hinterfragt teils ironisch, teils gewaltsam, welche Rolle Kunst und Theater in der modernen Gesellschaft spielen. Als die Big-Brother-Fernseh- formate sich durchsetzten, hat er einen Container mitten in Wien aufgestellt und die gefilmten "Insassen" um die österreichische Staatsbürgerschaft konkurrieren lassen. Selbstprostitution im Fernsehen wird künstlich ausgestellt und verknüpft mit staatlich geforderten menschlichen Selbstentblößungen.
Eine so deutlich greifbare Idee transportiert Schlingensiefs jüngstes Opus "Kunst und Gemüse. A. Hipler" an der Berliner Volksbühne nicht. Hosea Dzingirai, als Maler in seinem Heimatland Simbabwe bekannt, firmiert als Regisseur. Schlingensief will nur Produzent gewesen sein, doch tatsächlich weist die gesamte Inszenierung seine Handschrift auf.
Letztlich ist es egal, wer Regie geführt hat. Denn die Maske des Produzenten zeigt: Die schon länger auch in der Volksbühne gepflegte Theater-Mode, sich ästhetisch bei Film und Fernsehen zu bedienen, ist nicht einfach ein künstler- isches Erneuerungsmittel. Man handelt sich auch Folgen für die Produktionsbe- dingungen ein: Übermächtige Produzenten könnten bald alles entscheiden. Die Frage der Hierarchien und der Verteilungsmacht im internationalen Kunstbe- trieb wird in einer kurzen Szene über die Kasseler Documenta weiter gesponnen, wenn deren ehemalige Leiterin Catherine David wie nebenbei den dunkelhäutigen Regisseur auf der Bühne abhandelt und sich sogleich einem Jean-Luc-Godard-Double zu Füßen wirft. Doch Godard ist passé, Europa bezieht Neuigkeiten aus den USA. So wird zeitweilig das "Off Shit Theater New York" auf der Drehbühne installiert. Darin wird der Geburtstag von Johannes Heesters gefeiert. Soll heißen: Das Neue von drüben ist auch nur eine Wiederholung. Kommerzielle Harmlosigkeit herrscht in der Kunst.
"Theater ALS Krankheit"
Zwei Formelemente prägen diese - wie es heißt - Installation oder Perfor- mance. Sie ist polymorph und in den einzelnen Elementen durchaus befremd- lich. Schönbergs Zwölfton-Musik wird zitiert, ein Teil seiner Oper "Von heute auf morgen" gegeben. Parallel laufen verschiedene Leinwandprojektionen, etwa eine tonlose Filmaufführung der Oper, oder ein Text, den Angela Jansen, im Bett liegend, zeitecht mit Hilfe eines lasergesteuerten Computers schreibt. Sie ist - wie der Maler Jörg Immendorff - an der Lähmung ALS erkrankt, allerdings im fortgeschrittenen Stadium. Sie kann sich nicht bewegen und hat nur dank der Technik teil am gemeinsamen Leben. Ein Motto des Abends lautet denn auch "Theater ALS Krankheit". Wer gern im Anspielungsreichtum so manche Verbiegung in Kunst und Gesellschaft entziffert, kommt hier auf seine Kosten.
Die nächsten Vorstellungen: heute sowie 26. und 27. November, 17. und 30. Dezember.
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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