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Theater ALS Krankheit
Über Schreckgespenst Christoph Schlingensief und seine jüngste Produktion "Theater ALS Krankheit - Kunst und Gemüse, A. Hipler" an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz.
Von Yasmin Stjepanovic
Wer Schlingensief kennt und schätzt muß starke Nerven haben, soviel steht fest. Den Beginn seiner Karriere markieren Filmproduktionen wie "100 Jahre Adolf Hitler" über die Banalität des Bösen, "Terror 2000" über den aufkommenden Rechtsradikalismus in Deutschland, "Das deutsche Kettensägenmassaker" über die Assimilierung Ostdeutschlands im Zuge der Wiedervereinigung und "Die 120 Tage von Bottrop", deklariert als letzer neuer deutscher Film. 1993 debütiert er als Regisseur mit dem Theaterstück "100 Jahre CDU" an der Berliner Volksbühne. Zahlreiche Inszenierungen folgen. Darunter Stücke wie "Rocky Dutschke 68" (Volksbühne 1996), das mit den 68ern abrechnet und seine Hamlet-Inszenierung (Zürich 2001), die den herkömmlichen Umgang mit Rechtsradikalismus in Frage stellt, Verdächtigungen erklärt und dadurch neuen Herangehensweisen den Weg ebnet. Neben den Theaterproduktionen erreichten besonders seine letzten Projekte, die als Aktionskunst zu bezeichnen sind, die breite Medienöffentlichkeit: "7 Tage Notruf für Deutschland" (Hamburg 1997) bestand aus dem Leben und Verstehen einer Bahnhofsmission, auf der 10. Documenta in Kassel lief er in Tarnfleck mit einem Schild "Tötet Helmut Kohl" umher und wurde prompt verhaftet. 1998 trat er mit der Partei Chance 2000, die den Wahlspruch "Wähle Dich selbst" propagierte, zur Bundestagswahl an. In seiner Aktion "Bitte liebt Österreich" (Wien 2000) errichtete Schlingensief anläßlich des FPÖ-Wahlerfolgs auf den Wiener Festwochen einen Asylantencontainer und versah ihn mit FPÖ- und Kronen-Zeitung-Zitaten. 2003 gründete er die "Church of Fear" zu der er alle einlud, die Angst haben und sich dazu bekennen. Zuletzt sorgte er für Irritationen durch die Inszenierung von Wagners "Parsifal" als Auftakt zu den Bayreuther Festspielen.
Schon die Aufzählung der Titel weist auf Schlingensiefs typische Motivation Kunst zu machen hin: Die (Selbst-)Denunziation. Boris Groys, Professor für Kunstwissenschaft, Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, sieht darin, Jean Baudrillards Geist des Terrorismus aufgreifend, das zentrale Motiv der modernen Kunst überhaupt, das sowohl durch die Inquisition als auch durch das im Grunde würdelose Zeigen des Jesus am Kreuz christlich geprägt ist und mit dem Avantgardkünstler Marcel Duchamps Urinoir aus dem Jahre 1917 als eine Art Preisgabe der privaten schmierigen Geheimnisse in der Öffentlichkeit begann. Deswegen kann über Schlingensief nicht von Tabubrüchen geredet werden. Denn es handelt sich ständig um Selbstpreisgaben, um ein Scheitern als Chance und um einen innerkünstlerischen Wettbewerb, wer sich am stärksten selbst denunzieren kann. In diesem Kontext begreift man am besten die ständigen Empörungen über Christoph Schlingensief in der Presse.
Schlingesiefs aktuelles Stück "Theater ALS Krankheit - Kunst und Gemüse, A. Hipler ist eine Installation, eine Ausstellung von Theater mit dem Unterschied, daß der Zuschauer unbeweglich und die Kunstobjekte beweglich sind. Eine mobile schlingensiefsche Flick-Collection, die am heutigen Kunstverständnis rüttelt indem sie ihren Archivcharakter demonstriert und das Zitieren, das heißt nachahmen von Kunstwerken und Künstlerprominenz in einer regelrechten Materialschlacht propagiert: Wagner-Walküren, Fassbinder-Liebling Irm Hermann, Corinna Harfouch, Warhols Factory-Muse Udo Kier, Nouvelle Vague Filmregisseur Jean-Luc Godard, der die Matthäuspassion inszenieren soll, ein Mc Carthy-Kopf auf einem Venuskörper, vielleicht als Paradiessymbol gemeint, Duchamp- ,Kippenberger-, Nauman-, Adorno-Zitate, Anspielungen auf Eichingers "Der Untergang", King Kong in New York, Catherine David als affektierte Documenta X-Tussi und auch Operettensänger Johannes Heesters singt Rühmann und kann sich an die Nazizeit eigentlich nicht mehr so richtig erinnern.
Während zwischendurch apokalyptische Musiksequenzen das Bühnenchaos untermalen, gerät der 100-jährige Johannes Heesters unter Verdacht selbst ein Nazi zu sein. Schlingensief beschreibt dadurch diesen typischen zwanghaft-paranoiden Naziverdacht, der zur Not auch suggeriert werden kann, als ein selbstdenunziatorisches Element: Eine kleine Frau an seiner Seite mit Piepsstimme fragt ihn ständig und betont beiläufig wie eine Koprolaliekranke*: "Bist du ein Nazi? Nazi, Nazi, Nazi?". Heesters werden später die Füße im Flugzeug nach New York gewaschen, ein religiöses Symbol für das Vergeben von Sünden, das in der jüdischen Tradition noch heute verhaftet ist, während Palästinensertuch-tragende afrikanische Terroristen die Fluggäste verschrecken und mahnend die Zwillingstürme im Hintergrund stehen.
Weil der Kunstmarkt auch schon gut verstanden hat, daß "Hitler sells", ersetzte Schlingensief im Titel seiner Theatercollage das "t" durch ein "p" (A. Hipler ist eben "hip") und läßt ihn direkt oder indirekt in Videoprojektionen in einem Auto mit Totenkopf und in Eichingers Führerbunker für Voyeuristen anklingen oder im Gemüseladen, in dem Hitler ein angebotenes Ausstellungsobjekt unter vielen in der Warenauslage der Kunst bedeutet, das ständig neu erfunden wird. Der Zuschauer erfährt in diesem Stück ein Legosystem an Kunst, in dem selbst Wagner schon ein sogenanntes Ready-made darstellt, also gebrauchsfertig vorliegt und als Baustein eines Referenzsystems integriert werden kann. Stacheldraht markiert die Bühnenränder, der den Kunstraum der Bühne in ein regelrechtes Kunst-Lager verwandeln soll. Man findet während der Inszenierung ständig die Frage "was ist eigentlich Kunst?" vor, was Familie Wagner durch einem Brief der Bayreuther Festspielleitung zu beantworten weiß. Diese Szene kann als Kritik an Gebrauchsanweisungen für Kunstwerke verstanden werden.
Schlingensief hat dem Verfall des Theaters aber den Kampf angesagt und setzt, vielleicht aus einer Erkenntnis seiner letzten Parsifal-Inszenierung in Bayreuth gewonnen, dem funktionalistischen Wagner, den er in Namibia mit seiner Frau Cosima kurz auftreten läßt, Arnold Schönbergs atonale Tonleiter gegenüber, die durch zwölf Schauspieler inklusive dem "W", was für das wagnerische Wiederholungsmotiv steht, verkörpert wird. Zwölf Töne stellen aber auch zwölf Buchstaben(-kombinationen) dar, die die Schauspieler zu Beginn des Stücks in der Hand tragen. Je nachdem wie sie zueinander stehen, könnte sich eine neue Sprache im direkten wie im abstrakten Sinne ergeben, die den Grenzbereich, in dem Kunst und Poesie stattfinden kann, berührt und in diesen Randzonen von Bekanntem und Unbekanntem als Kommunikationsmittel nicht mehr ordentlich funktioniert, sondern Zeichen und Rätsel des Wirklichen und Möglichen hinterlässt.
Fünf Mal tragen zwei Sänger Passagen aus Arnold Schönbergs Oper "Von heute auf morgen" vor, die die Frage nach dem modernen Menschen stellt. Die Idee der schönbergschen Atonalität wird hier auf das Theater angewendet, weil Schlingensief durch diese befremdlichen Effekte eines Kunst-Kaleidoskops, durch die Disharmonien und Zufälligkeiten auf ein neues Theater hofft, das das Prinzip der abstrakten Malerei und der modernen Musik aufgreift. "Was früher die Ölfarbe war, ist heute das Video", wird dem Zuschauer von der Bühne herab erklärt.
Doch in dieser theatralischen Installation geht es vor allem auch um eine Frau namens Angela Jansen, die in ihrem Krankenbett mitten im Publikum liegt. Ein Schlauch beatmet sie, während ihre Augen einen Monitor am Bettgestell fixieren. Sie heißt Angela Jansen und leidet an ALS (Amyotropher Lateralsklerose). Eine unheilbare Krankheit, die durch allmählich voranschreitende Lähmungen einen Verlust der Mobilität, Stimme und Autonomie bewirkt, währenddessen die Erkrankten aber bei voller Geisteskraft bleiben. "Mir fehlt nichts. Ich kann mich bloß nicht bewegen", schreibt Angela Jansen mittels EyeGaze, das wie eine Tastatur für die Augen funktioniert und mit einem Laserstrahl die Bewegung der Augäpfel abliest, wenn sie die Buchstaben auf einer Tastatur anvisiert. Ab und zu lächelt sie, was für den Zuschauer, die ihr Gesicht auf einer Videoleinwand verfolgen können, wie für eine Versicherung sorgt, daß es ihr gut geht. Unter dieser Krankheit im Frühstadium leidet auch Beuys-Schüler Jörg Immendorff, der an diesem Stück deswegen mitwirkt um "auf einem hohen Niveau über Krankheit zu sprechen", wie auf dem Theaterplakat geschrieben steht.
Theater als Krankheit und Theater als Lähmung erklärt den Zustand des Theaters, aber auch den Zustand des herkömmlichen Kunstkonsumenten, der für gewöhnlich eine passive Zuschauerrolle innehat. Wenn man dabei an Schlingensiefs früheres Parteiprojekt Chance 2000 denkt, so demonstriert er damit auch die Lähmung, das heißt den Stillstand ganz Deutschlands, das sich weder politisch zu bewegen weiß noch zu definieren vermag und selbst Zuschauer seines eigenen parlamentarischen Theaterstücks geworden ist. Deswegen ist die Rolle der ALS-Kranken Angela Jansen aktiver als die jedes Zuschauers, denn nur durch ihre Augen dirigiert und kommentiert sie über Videoprojektionen das (Bühnen-)Geschehen.
* Koprolalie: Der Drang, obszöne und schmutzige Worte auszustoßen. Der Betroffene wird unvermittelt von diesem Zwang befallen. Trotz größter Willensanstrengung gelingt es ihm meist nicht, die Worte zurückzuhalten.
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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