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"Zwölf Wege zur Erstarrung"
Theater, das keins sein soll: In seinem neuen Performanceprojekt "Kunst und Gemüse, A. Hipler" thematisiert Christoph Schlingensief die tödliche Nervenkrankheit ALS und stellt sie gemeinsam mit der Zwölfton-Oper "Von heute auf morgen" in einen Kunstkontext. Gestern war Premiere an der Berliner Volksbühne.
Die Protagonisten der Aufführung am Rosa-Luxemburg-Platz sind die zwölf Töne der Tonleiter. Als dreizehnter kommt das "W" hinzu, es steht für das Wiederholungsmotiv. W wie Wagner.
"Theater ALS Krankheit. Alle sagen ihm den Kampf an, dem Verfall", tönt es durch die Volksbühne. Die Zuschauer, so wünscht es sich Schlingensief, sollen sich die lebendige Installation auf der Bühne "so ansehen, als wären sie in einer Kunstausstellung". Kein Wunder, sagte er im Vorfeld der Premiere von "Kunst und Gemüse" doch in einem Interview, "normales Theater ist für mich überholt und langweilig. Eine reaktionäre Einrichtung. Genauso wie Oper. In den Händen von angeblichen Traditionalisten. Mich langweilt es, ich gehe lieber in Ausstellungen".
Durch ihre Position im Raum ist sie Teil des passiv betrachtenden Publikums, durch ihre Funktion aber treibende Kraft der Inszenierung: Angela Jansen, die vielleicht wichtigste Person der Aufführung. Jansen ist mit 38 Jahren an der Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) erkrankt. ALS führt schrittweise zur Lähmung der Extremitäten, des Sprechens, Schluckens und der Atmung. Jansen wird beatmet und liegt seit dem Nikolaustag 1998 völlig bewegungsunfähig im Bett. Sie kann nur über die Augen kommunizieren, mit denen sie einen Schriftcomputer bedient.
An ALS leidet auch der Maler Jörg Immendorff. Für das "Kunst und Gemüse"-Projekt entwarf er ein Plakat, das in der Volksbühne zu Gunsten der Forschung verkauft wird. Immendorff hat an der Berliner Charité ein Stipendium zu Erforschung der noch recht unbekannten Krankheit geschaffen.
Angela Jansen liegt während der Vorstellung in ihrem Bett mitten im Zuschauerraum der Volksbühne. Sie kommentiert und informiert über ALS. "Mir fehlt nichts, ich kann mich nur nicht bewegen", lässt sie das Publikum, das ihre Aussagen auf großen Leinwänden liest, wissen.
Zwölf Wege zur Erstarrung und zwölf Wege, den Geburtstag von Johannes Heesters zu feiern, will das Kunstprojekt unter anderem zeichnen. Johannes Heesters, er ist das Gis, ist tatterig. Auf die Frage, wer er sei, antwortet er immer wieder: "Ich denke Johannes Heesters." An seine Haltung in der Nazi-Zeit kann er sich einfach nicht erinnern.
Neben Heesters bevölkert auch die Familie Wagner die Bühne. Regisseur Hosea Dzingirai (Schlingensief fungiert als Kurator), der die ganze Zeit präsent ist, erläutert den Lauf der Dinge von einem Podium aus, an dem er laut Namensschild den Platz von Tankred Dorst einnimmt.
Dorst soll 2006 in Bayreuth den "Ring des Nibelungen" inszenieren. Schlingensief hatte 2004 bei den Bayreuther Festspielen den "Parsifal" inszeniert.
"Kunst und Gemüse" ist untrennbar mit Schlingensiefs Erfahrungen auf dem grünen Hügel verbunden. Eine Gudrun Schlingensief teilt Regisseur Dzingirai am Ende der Vorstellung mit, dass seine Anwesenheit bei den Proben zur Wiederaufnahme von "Kunst und Gemüse" nicht von Nöten sei. Gudrun wie Gudrun Wagner.
Schönberg gilt musikgeschichtlich als Antwort auf Wagner. Seine Musik rechnet, so beschreibt es Adorno, "endgültig mit dem fließenden, funktionellen Wagnerklang ab". Schlingensief will mit dem im Stillstand steckengebliebenen Theater abrechnen. Er muss seine Arbeit deshalb "Performance-Kunstprojekt" nennen. Was er auf die Bühne bringt, ist jedoch Theater im besten Sinne: Es regt Herz und Verstand an - lebendig und inspirierend, unterhaltsam und berührend.
Ulrike Geist, ddp
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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