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Welch sympathischer Schwachsinn
Weil er nach Bayreuth nicht mehr darf, inszeniert Christoph Schlingensief für die Berliner Volksbühne einen "Parsifal fürs Volk"
von Manuel Brug
"Zum letzten Mal, zum letzten Mal", gellt es in der Endlosschleife und ohne jede musikalische Auflösung durch die Berliner Volksbühne. Wie vorher das Diktum "Theater ALS Krankheit". Wagner bei Castorfs: nicht zum ersten und wohl schon gar nicht zum letzten Mal. Die echten Wagners freilich wußten wohl wirklich nicht so Recht, wen sie da nach Bayreuth riefen. Und glaubten, wenn Beelzebub Christoph nach seinem weltweit wellenschlagenden "Parsifal"-Exorzismus samt Videobeamer wieder vom Grünen Hügel verschwunden sei, wäre die Sache schon gelöst. Aber natürlich arbeitet sich der gar nicht reine Tor Schlingensief weiterhin an dem Casus ab, schon weil die Vorschriften der Festspielhaus-Ordnung und der schöne Streit um hängende oder gespannte Leinwände zum Zweck der Projektion sowie die Versuche, im nächsten Jahr seine Rückkehr zu verhindern und alles die Assistentin Katharina Wagner schaukeln zu lassen, ja gar zu hirnrissig sind.
Es ist - wieder mal - das Jahr Schlingensiefs geworden. Also wird jetzt kräftig nachbereitet. Ein angekündigter "Volks-Parsifal" ist es freilich nur in Teilen geworden. Schon weil der chaotische Chef sich schon wieder weiter wähnt. Doch ganz vergnüglich war es trotzdem - und mit 90 Minuten Spielzeit mehr als konsumentenfreundlich.
"Kunst und Gemüse, A. Hipler" - es sollte angeblich mal "Die Fick Collection" heißen - hält sich mit einem per Videoeinspielung von Neonazis zerschlagenen Gemüseladen nur kurz auf. Dann gibt es noch eine Riesentomate, in der die dicke "Parsifal"-Nackte steckt und die wohl auf den Ketchup-Künstler Paul McCarthy anspielen soll. So wie auch Bruce Nauman, Martin Kippenberger, Marcel Duchamp, Pipilotti Rist, Dieter Roth und andere Aktionisten als Mitmacher aufgeführt sind. Neue Musik, neue Kunst und junges Gemüse sollen hier zu einem gemeinschaftlichen Performancekunstwerk gefügt werden, in dem Schlingensief nur noch als Produzent auftritt. Bayreuth hat ihn offenbar der Bühne entwöhnt.
Zunächst einmal gibt es - als "musikgeschichtliche Antwort auf Wagner" und "erweiterten Wir-Begriff" eine Schrumpelfassung von Arnold Schönbergs erster Oper "Von heute auf morgen" über den Ehekrieg eines Paares. Kondensiert für Klavier, Klarinette und Posaune. Live gesungen, und im Film hübsch nachgespielt von Irm Hermann (die sich auch in Realiter über ihr Video-Ego amüsierte) und Udo Kier. Schönbergs zwölf Töne treten in Natura als Personal der üblichen Schlingensief-Freakshow auf. "Ich bin das Fis, sagt eine langmähnige Zwergin. Es sind sogar 13, denn ein Wolfgang Bach, der durchaus Ähnlichkeit mit einem anderen Wolfgang hat, ergänzt die Scala als Wiederholungsmotiv. So wie offenbar auch die ehemalige Sigrid-Löffler-Perücke für eine gewisse Gudrun Schlingensief umfrisiert wurde. Regie führt diesmal Hosea Dzingirai aus Zimbabwe, der mit seinen beiden Assistentinnen aussieht wie der letzte Rest von Boney M. Das daddelt so dahin und wird auch nicht richtig gelenkt durch die ALS-Kranke Angela Jansen, die bewegungsunfähig in ihrem Bett liegend von der vorderen Parkettmitte aus Laserbotschaften mit den Augen schreibt, welche ihr Kranksein thematisieren. "Mir geht es gut, ich kann mich nur nicht bewegen", steht da. Der ebenfalls an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) erkrankte Jörg Immendorf hat ein Plakat für diese zunächst müde Kunstaktion entworfen.
Es steigert sich freilich im zweiten Teil, wo auf der Drehbühne eine dem Bayreuther Bühnenbild angenäherte Installation kreiselt, zum hübsch absurden Wagner-Bashing für Fortgeschrittene. Gudrun, Wolfgang und Tankred Dorst inszenieren vorn eine Pressekonferenz, in der aus Briefen der Festspielleitung zitiert wird. Außerdem führt man singend den immer schöneren Wahnsinn in Donizettis "Lucia di Lammermoor" vor. Ein Johannes-Heesters-Double im Frack wird befragt, wie es denn damals so mit den Nazis war. Hinten wackelt ein echter Esel mit dem Schwanz, dann wird nach Kabul geschaltet, wo Jean-Luc Godard die Matthäus-Passion inszeniert und selbst den Tamino plärrt. Eine blonde Katharina greift sich geil in den Schritt und stöhnt sexsüchtig. Immer wieder kommt der Schönberg dazwischen, der in einer filmischen Mehlschlacht endet, an der sich auch Corinna Harfouch und Peter Kern beteiligen. Und die Pseudo-Wagners gefrieren immer wieder zum bekannten Gruppenfoto von der Festspiel-Eröffnung.
Natürlich ist das wieder so ein sympathisch dilettantischer Riesenschwachsinn, dem der Rote Faden beispielsweise einer Wagner-Partitur fehlt, an der sich Schlingensief abarbeiten muß. Insofern hatte der Bayreuther Verwaltungszwang schon sein Gutes. Doch spätestens wenn Angelas echter Geburtstag gefeiert wird, vermischen sich sowieso wieder Schlingensief-Kunst und Leben und hinterlassen den Rezensenten machtlos, sprachlos, geschlagen. "Da steckt soviel Herzblut drin", stöhnt Schlingensief-Dramaturg Carl Hegemann auf der Premierenfeier. Wir wollen es ihm glauben.
Termine: 24., 26., 27. 11., 17., 30. 12.; Karten: (030) 247 67 72
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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