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Taumeln und Schwindeln

Christoph Schlingensief proudly presents: "Kunst & Gemüse. A. Hipler". Doch die Führung durch Kunst und Leben an der Berliner Volksbühne bleibt trotz Megaüberbau sehr wenig zwingend


VON KATRIN BETTINA MÜLLER


"Kunst & Gemüse. A. Hipler": Der Titel der neuen Produktion von Christoph Schlingensief warnt ziemlich genau vor dem, was kommen wird. Kunst, das was überdauern will, und Gemüse, dem täglichen Untergang in der Nahrungskette geweiht, markieren die Eckpunkte in einem Feld des Denkens, das sich in Szenen und Bildern zu vermitteln sucht. Widersprüchlich besetzt sind dabei beide Pole: Die Kunst bildet einerseits einen Sehnsuchtsort und andererseits einen Hort der Überheblichkeit. Das Gemüse ist zwar stets bedroht vom nahen Ende, wird aber auch beneidet für die Furchtlosigkeit, mit der es sein Geschick entgegennimmt. Am Anfang und Ende ist eine Stimme aus dem Off zu hören: "Alle sagen ihm den Kampf an, dem Verfall."

Der Erste, der auf die Bühne kommt, stellt sich als Leiter eines Orchesters vor, das Motive aus Schönbergs Oper "von heute auf morgen" aufführt. Etwas später wird Hosea Dzingirai aus Zimbabwe vorgestellt, der als Regisseur vom Rande der Bühne aus Anweisungen gibt. Eine dritte Leitungsebene wird Angela Jansen zugewiesen, einer gelähmten Frau, die auf ihrem Bett vorne zwischen die ersten Publikumsreihen geschoben ist und von dort aus mit Textbotschaften schickt.

Es gibt viele Erklärer und Erklärungsansätze an diesem Abend, nichts davon ist zwingend. Der Titel benennt nur die erste inhaltliche Disposition, der weitere folgen. Metaphern werden aufeinander getürmt, bis man irgendwann mit einer gigantischen Gebrauchsanweisung ausgestattet ist, wie das alles auf der Bühne zu verstehen ist. Ein Megaüberbau. Doch glücklicherweise schert sich ein Teil der Anwesenden auf der Bühne wenig darum und unterläuft eigenwillig die vorausgeschickten Deutungsmuster. Die Unsterblichkeit des Künstlers und das Leugnen der Vergangenheit: Sie gehen eine merkwürdige Verbindung in der Figur des 100-jährigen Johannes Heesters (Peter Müller) ein. "Ach, das ist alles so lange her", wehrt er jede Frage nach der Zeit des Nationalsozialismus ab. In gewisser Weise seilt er sich damit aus der Sphäre der Kunst in die des Gemüses ab.

Ungeheuerlich dagegen ist das Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit, mit dem Angela Jansen umgehen muss. Sie kann den Körper nicht mehr bewegen, aber ihr Gesicht, manchmal in Großaufnahme auf der Bühne projiziert, zeigt ihre Anteilnahme. Sie kann nur mit den Augen kommunizieren und mit Hilfe einer Laserkamera und eines Computers schreiben. Mit ihr verändert sich die Rolle des Zuschauers, aus Zuschauen wird eine Form von Zuwendung. Man fühlt sich an bisschen an die Hand genommen und an Orte gebracht, die man sonst nur mit Angst und Zagen betritt.

Spuren hinterlassen hat aber auch, was Schlingensief selbst in Bayreuth als gefragter Künstler und Auftragsregisseur widerfahren ist. Gleich zwei Alter Ego, Hosea Dzingirai und eine Figur namens Jean-Luc Godard, stellt er sich deshalb in einer Art therapeutischer Selbstreinigung auf die Bühne, um das Dilemma der umschmeichelten, verführbaren, überforderten und zum Schluss in Selbsthass wütenden Künstlerseele vorzuführen. Nach dem eigenen Gastspiel in Bayreuth hält Schlingensief wohl auch jede weitere Verkuppelung zwischen kulturkonservativen und den Kulturbetrieb eigentlich hintertreiben wollenden Geistern für möglich.

Zwischendurch wird ein wenig Schönberg gesungen. Das Einstreuen der Zwölftonmusik hat etwas von der Begehung eines Museums, in dem der Regisseur unvermutet auf Motive traf, die ihm wie ein Urbild der eigenen schienen. Das ist zumindest der Gestus, in dem Schlingensief mit Schönberg kokettiert. Man ist aber nie sicher, ob ihm nicht eher der artifizielle Aufführungscharakter dieser Musik, die noch immer als Avantgarde gilt und doch schon so historisch scheint, als spannungsvoller Gegenpol zu anderen, einfach nur sich selbst meinenden Darstellern auf der Bühne dient.

Das Zerfasern des Abends zwischen den möglichen Kontexten der Deutung gehört ins Konzept der Lebensnähe, eben der Wunsch, nicht nur Kunst, sondern auch Gemüse zu sein. Dass dies nicht zugleich ein Zerkrümeln der Aufmerksamkeit nach sich zieht, dafür sorgen die Bühnentechnik und eine eher choreografische als dramatische Verknüpfung der Szenen. Ein Teppich aus Lichtbildern legt sich über alles, die Drehbühne wird zum Karussell, Paraden sammeln die Mitwirkenden der unterschiedlichen Ebenen ein. Letztendlich ist es ein großes Schwindeln und Taumeln, das die Sache zusammenhält.

taz Nr. 7518 vom 19.11.2004, Seite 16, 151 Zeilen (Kommentar), KATRIN BETTINA MÜLLER



- "Deutsches Theater in Pariser Vorstädten" - Deutschlandradio vom 6.2.2006
- "Une pièce génialement bordélique de Schlingensief" - Libération, Paris
- "Découvrir Schlingensief" - Nouvelle Observateur, Paris
- "Ich ALS Ich" - Gespräch der "theatertreffen"-Zeitung mit Angela Jansen
- Unpolitisches Regietheater... - Der Donaukurier vom 21.05.2005
- Die Würde der Bewegungslosigkeit - Der Standard vom 27.12.2004
- Der Feind im eigenen Körper (gekürzte Fassung) - Der SPIEGEL Nr. 49/2004
- Mir geht es gut, ich kann mich nur nicht bewegen - BILD vom Dez. 2004
- Die Ost-West-Kiste ist geschlossen - Interview aus der BZ vom 17.11.2004
- "Der Mord an van Gogh ist nur für Holland interessant" - taz vom 17.11.04
- Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen - SZ vom 19.11.2004
- Zwölf Wege zur Erstarrung - Spiegel Online vom 19. November 2004
- Welch sympathischer Schwachsinn - Die Welt vom 19. November 2004
- Taumeln und Schwindeln - taz Nr. 7518 vom 19.11.2004, Seite 16
- Im Dienste der Aufklärung - Berliner Morgenpost vom 19. November 2004
- Mit zwölf Tönen in Kabul - DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.11.2004
- Krankheit Kunst - Der Tagesspiegel vom 19. November 2004
- Letzter Vorstoß der Avantgarde - Stuttgarter Zeitung vom 19.11.2004
- Theater ALS Lähmung - Neues Deutschland vom 19. November 2004
- Das Theater ist krank - Frankfurter Neue Presse vom 19.11.2004
- In der Moderne ist der Wurm drin - Esslinger Zeitung vom 23.11.2004
- Über Schlingensief und seine jüngste Produktion - Junge Freiheit vom 25.11.




Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler

- "Deutsches Theater in Pariser Vorstädten" - Deutschlandradio vom 6.2.2006
- "Une pièce génialement bordélique de Schlingensief" - Libération, Paris
- "Découvrir Schlingensief" - Nouvelle Observateur, Paris
- "Ich ALS Ich" - Gespräch der "theatertreffen"-Zeitung mit Angela Jansen
- Unpolitisches Regietheater... - Der Donaukurier vom 21.05.2005
- Die Würde der Bewegungslosigkeit - Der Standard vom 27.12.2004
- "Mir geht es gut. Ich kann mich nur nicht bewegen." - Angela Jansen in BILD
- Im Auge des Theatersturms - Ein Augenzeugenbericht von Angela Jansen
- Kunst & Gemüse Bilderstrecke - Exklusive Eindrücke von Proben und Premiere
- "Der Feind im eigenen Körper" - ALS-Beitrag von Gerald Traufetter (SPIEGEL)
- "Ich bin noch lange nicht da, wo es nicht weiter geht" - STERN-Beitrag zur ALS
- "Darstellung ohne Schaustellung" - Begleitwort von Dr. Thomas Meyer, Charité
- "Kunst & Gemüse" Pressespiegel - Das schreibt die Presse zur Premiere
- Angela Jansen über "Kunst & Gemüse" - Exklusiv-Interview m. Angela Jansen
- "Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen" - Biografie A. Jansen
- "Theater ALS Krankheit" - 6. Tagesbericht: die Krankheit des Theaters selbst
- "Mein lieber A.," - Ein Brief von Regisseur Hosea Dzingirai an A. Hipler
- Schlingensief und Jörg Immendorff gegen tödliche Nervenkrankheit ALS
- "Wir müssen den WIR-Begriff erweitern!" - Fünfter Probenbericht vom 12.11.
- "Alles Theater rund um die Wirklichkeit" - Vierter Probenbericht vom 11.11.
- "Theater hinterläßt – nichts" - Jean-Luc Godard über "Kunst und Gemüse"
- "Nachschublinien" - Dritter Tagesbericht v.d. Endproben zu "Kunst & Gemüse"
- "Reproduktion des Unproduzierten" - Martin Kippenberger im Gespräch
- "Agonie des Realen" - Zweiter Probenbericht aus dem Innern der Volksbühne
- Tonal, atonal, total - Erste Expressionen der "Kunst & Gemüse"-Endproben
- "Alles in Großaufnahme" - Kerstin Grassmann zur Arbeit mit Hosea Dzingirai
- "Er ist die Musik" - Christoph Schlingensief im Gespräch m. Peter Laudenbach
- Biografie Hosea Dzingirai - Profil des aus Simbabwe stammenden Regisseurs
- "Kunst der Geistestätigkeit" - Interview mit dem Regisseur Hosea Dzingirai
- "Eine Art von Selbstbefreiung" - Marcel Duchamp über seine Ready-Mades
- Biografie Marcel Duchamp - Ein Kurzportrait des Hipler-Mitwirkenden
- Was ist die ALS? I - Informationen zur Amyotrophen Lateral Sklerose (ALS)
- www.immendorff-stipendium.de - Forschungsarbeit zur ALS Krankheit
- www.schlingensief-als.de - Projektseite der Charité Berlin und C. Schlingensief
- www.als-charite.de - Grundlegende Informationen zu ALS (Charité Berlin)

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KUNST UND GEMÜSE,
A. HIPLER


Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz

Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen

Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David

Eine Christoph-Schlingensief-
Produktion

Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell

Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff


Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin





Externe Links

- Charité ALS-Seite

- Immendorf-Stipend.

- Schlingensief-ALS

- Volksbühne Berlin