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Im Dienste der Aufklärung

Postbayreuthisch: Schlingensiefs Spektakel "Kunst & Gemüse. A. Hipler" in der Volksbühne


Von Peter Hans Göpfert


Christoph Schlingensief hat ein schlechtes Gewissen. Nicht, weil er Wagner inszeniert und damit womöglich sein Stammpublikum am Rosa-Luxemburg-Platz irritiert hat. Nein, viel schlimmer: weil sein Bayreuther "Parsifal" so wohlwollend aufgenommen wurde. Jetzt holt er in der Volksbühne zum großen Kompensations-Schlag aus. Der Titel sagt zwar nicht alles, aber schon vieles: "Kunst & Gemüse. A. Hipler".

Der Wohnwagen, in dem Christoph auf den Grünen Hügel kurvte, ist auf der Bühne gegenwärtig. Wolfgang und Gudrun, die hier zwar nicht Wagner, sondern Bach heißen, lassen sich aus peniblen Vertragspapieren oder anderweitig vernehmen. Der hier personifizierte Film-Regisseur Jean-Luc Godard, so hören wir, soll die Matthäuspassion inszenieren. Und eine andere Erscheinung am Talkshow-Tisch ruft durchdringend schrill "Doni-doni" oder "zetti-zetti" ins Bühnengetriebe. Tankred Dorst ist bereits mit einem Namensschild als Ersatzmann angekündigt.

Schlingensief hat es auch grundsätzlicher. Ein Aufhänger des Abends ist Arnold Schönbergs Kurzoper "Von heute auf morgen". Sehr lustig, werden prompt verschiedene Spieler als Verkörperung der Zwölftonreihe aufgestellt - unter Hinzufügung eines "W" für Wiederholungsmotiv. Die melodramatisch komische Ehe-Eifersuchts-Geschichte wird hier von Konzertsängern live vorgetragen und zugleich in Stummfilmsequenzen von Irm Hermann und Udo Kier illustriert. Der atonale Schönberg steht hier, getreu Adorno, für den "Bruch" mit Wagner. Soweit das Persönliche. Oder noch nicht ganz.

Denn das viele Hintergrund-Material hat natürlich einen tieferen Zweck. Die Liste der "Teilnehmer" ist lang. Und die darin aufgeführten toten und lebendigen Künstler sollen wohl sagen: schau an, diese Ikonen, ob sie nun in der Flick-Collection vertreten sind oder nicht, sind meine Leitbilder, Marcel Duchamp, Martin Kippenberger, Bruce Nauman, Paul McCarthy, Dieter Roth usw. etc.. Denn "Theater" langweilt den Theatermacher Christoph Schlingensief ganz furchtbar, während ihn Kunstausstellungen entschieden mehr anmachen. Deshalb will dieser Abend auch ausdrücklich als "Ausstellung" und Installation betrachtet sein.

Nicht nur der vermehrte Zugriff auf Figuren der Kunst und Anti-Kunst, sondern insbesondere auch die Instrumentalisierung von Behinderten gehört zu den bekannten Reiz- und Stilmitteln des Antikünstlers, Readymade-lers und Postavantgardisten Schlingensief. Freilich verlangt auch diese allmählich nach Steigerung. Der Unermüdliche findet sie diesmal in der schrecklichen Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), die insbesondere durch den hiervon betroffenen Künstler Jörg Immendorff eine gewisse Publizität erlangt hat. "Lähmung" dient Schlingensief als Chiffre für "Krankheit" und "Theater". Und vielleicht nimmt er dann doch Marcel Duchamps Diktum "Geschmack ist der Feind von Kunst" allzu wörtlich. Denn inmitten des Publikums ist eine seit sechs Jahren langzeitbeatmete, vollständig bewegungsunfähige Patientin aufgebettet. Angela Jansen kommuniziert nur mit den Augen. Über eine Laserkamera animiert sie einen Computer. Ihre Erläuterungen zur eigenen Erkrankung werden groß projiziert. Aber auch, beispielsweise, ein Glückwunsch für Johannes Heesters.

Denn Jopi geistert als parodistischer Wiedergänger durch die Aufführung und singt schon mal "ich brech' die Herzen der stolzesten Frau'n", das ja eigentlich dem Heinz Rühmann gehörte. Macht aber nichts, denn Johannes ist ein bißchen lieb und ein bißchen trottelig-vergeßlich, insbesondere in historischen Dingen, womit dann endlich jener im Titel avisierte "A. Hipler" indirekt mitschwingen soll. Denn ohne spitzen Hinweis auf die derzeitige "Untergangs"-Schwemme kommt heute kein fortschrittlicher Bühnenmensch davon.

Das Echte und das Fake liegen hier eben dicht beieinander, das Latente und das Offensichtliche. Insofern ist es nur konsequent, wenn Christoph Schlingensief diesmal nur als "Produzent" (mit der Volksbühne als Koproduktions-Partner) firmiert, und Hosea Dzingirai aus Simbabwe im Saal und auf der Bühne die Rolle des Regisseurs übernimmt. "Mach nicht zuviel Schlingensief!" will Christoph dem Hosea gesagt haben. Aber auch diese Aufforderung war wohl nicht gar so wortwörtlich gemeint.

Zum Schluß wird mit "Happy Birthday" und demonstrativem Ensemble-Applaus für die ALS-Kranke der zunächst zögerliche Beifall für die Inszenierung mächtig in Fahrt gebracht. Nein, ein "Provokateur" will Christoph Schlingensief beileibe nicht sein. Vielmehr sieht er sich im Dienste der Aufklärung, weil die Pharmaindustrie der relativ seltenen Krankheit nicht genügend Gelder und Aufmerksamkeit zukommen lasse. "Kunst & Gemüse" - da haben wir den Salat. Aber wer läßt sich schon an der Volksbühne noch "provozieren"?

Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz. Mitte. Tel.: 247 67 72. Termine: 24., 26., 27. November, 17., 30. Dezember jeweils 19.30 Uhr



- "Deutsches Theater in Pariser Vorstädten" - Deutschlandradio vom 6.2.2006
- "Une pièce génialement bordélique de Schlingensief" - Libération, Paris
- "Découvrir Schlingensief" - Nouvelle Observateur, Paris
- "Ich ALS Ich" - Gespräch der "theatertreffen"-Zeitung mit Angela Jansen
- Unpolitisches Regietheater... - Der Donaukurier vom 21.05.2005
- Die Würde der Bewegungslosigkeit - Der Standard vom 27.12.2004
- Der Feind im eigenen Körper (gekürzte Fassung) - Der SPIEGEL Nr. 49/2004
- Mir geht es gut, ich kann mich nur nicht bewegen - BILD vom Dez. 2004
- Die Ost-West-Kiste ist geschlossen - Interview aus der BZ vom 17.11.2004
- "Der Mord an van Gogh ist nur für Holland interessant" - taz vom 17.11.04
- Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen - SZ vom 19.11.2004
- Zwölf Wege zur Erstarrung - Spiegel Online vom 19. November 2004
- Welch sympathischer Schwachsinn - Die Welt vom 19. November 2004
- Taumeln und Schwindeln - taz Nr. 7518 vom 19.11.2004, Seite 16
- Im Dienste der Aufklärung - Berliner Morgenpost vom 19. November 2004
- Mit zwölf Tönen in Kabul - DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.11.2004
- Krankheit Kunst - Der Tagesspiegel vom 19. November 2004
- Letzter Vorstoß der Avantgarde - Stuttgarter Zeitung vom 19.11.2004
- Theater ALS Lähmung - Neues Deutschland vom 19. November 2004
- Das Theater ist krank - Frankfurter Neue Presse vom 19.11.2004
- In der Moderne ist der Wurm drin - Esslinger Zeitung vom 23.11.2004
- Über Schlingensief und seine jüngste Produktion - Junge Freiheit vom 25.11.




Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler

- "Deutsches Theater in Pariser Vorstädten" - Deutschlandradio vom 6.2.2006
- "Une pièce génialement bordélique de Schlingensief" - Libération, Paris
- "Découvrir Schlingensief" - Nouvelle Observateur, Paris
- "Ich ALS Ich" - Gespräch der "theatertreffen"-Zeitung mit Angela Jansen
- Unpolitisches Regietheater... - Der Donaukurier vom 21.05.2005
- Die Würde der Bewegungslosigkeit - Der Standard vom 27.12.2004
- "Mir geht es gut. Ich kann mich nur nicht bewegen." - Angela Jansen in BILD
- Im Auge des Theatersturms - Ein Augenzeugenbericht von Angela Jansen
- Kunst & Gemüse Bilderstrecke - Exklusive Eindrücke von Proben und Premiere
- "Der Feind im eigenen Körper" - ALS-Beitrag von Gerald Traufetter (SPIEGEL)
- "Ich bin noch lange nicht da, wo es nicht weiter geht" - STERN-Beitrag zur ALS
- "Darstellung ohne Schaustellung" - Begleitwort von Dr. Thomas Meyer, Charité
- "Kunst & Gemüse" Pressespiegel - Das schreibt die Presse zur Premiere
- Angela Jansen über "Kunst & Gemüse" - Exklusiv-Interview m. Angela Jansen
- "Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen" - Biografie A. Jansen
- "Theater ALS Krankheit" - 6. Tagesbericht: die Krankheit des Theaters selbst
- "Mein lieber A.," - Ein Brief von Regisseur Hosea Dzingirai an A. Hipler
- Schlingensief und Jörg Immendorff gegen tödliche Nervenkrankheit ALS
- "Wir müssen den WIR-Begriff erweitern!" - Fünfter Probenbericht vom 12.11.
- "Alles Theater rund um die Wirklichkeit" - Vierter Probenbericht vom 11.11.
- "Theater hinterläßt – nichts" - Jean-Luc Godard über "Kunst und Gemüse"
- "Nachschublinien" - Dritter Tagesbericht v.d. Endproben zu "Kunst & Gemüse"
- "Reproduktion des Unproduzierten" - Martin Kippenberger im Gespräch
- "Agonie des Realen" - Zweiter Probenbericht aus dem Innern der Volksbühne
- Tonal, atonal, total - Erste Expressionen der "Kunst & Gemüse"-Endproben
- "Alles in Großaufnahme" - Kerstin Grassmann zur Arbeit mit Hosea Dzingirai
- "Er ist die Musik" - Christoph Schlingensief im Gespräch m. Peter Laudenbach
- Biografie Hosea Dzingirai - Profil des aus Simbabwe stammenden Regisseurs
- "Kunst der Geistestätigkeit" - Interview mit dem Regisseur Hosea Dzingirai
- "Eine Art von Selbstbefreiung" - Marcel Duchamp über seine Ready-Mades
- Biografie Marcel Duchamp - Ein Kurzportrait des Hipler-Mitwirkenden
- Was ist die ALS? I - Informationen zur Amyotrophen Lateral Sklerose (ALS)
- www.immendorff-stipendium.de - Forschungsarbeit zur ALS Krankheit
- www.schlingensief-als.de - Projektseite der Charité Berlin und C. Schlingensief
- www.als-charite.de - Grundlegende Informationen zu ALS (Charité Berlin)

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- Gastspiel 2006 in Paris


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KUNST UND GEMÜSE,
A. HIPLER


Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz

Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen

Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David

Eine Christoph-Schlingensief-
Produktion

Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell

Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff


Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin





Externe Links

- Charité ALS-Seite

- Immendorf-Stipend.

- Schlingensief-ALS

- Volksbühne Berlin