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Letzter Vorstoß der Avantgarde
"Kunst und Gemüse" von Schlingensief in Berlin
Von Michael Bienert
Die armen Avantgarden! Seit hundert Jahren wollen sie die Grenzen der Kunst aufheben und verändern doch bloß den Kunstbegriff. Irgendwann landen alle wahren Kunstrevolutionäre im Museum oder in der Klassikabteilung. Das ist dem musikalischen Barrikadenkämpfer Richard Wagner so gegangen, dem Zwölftonmeister Arnold Schönberg, ebenso dem Readymade-Erfinder Marcel Duchamp, dem Regisseur Jean-Luc Godard oder dem rotzfrechen Maler Martin Kippenberger. Und es sieht ganz danach aus, als bleibe nun auch dem Aktionskünstler, Theater- und Filmemacher Christoph Schlingensief dieses Schicksal nicht erspart.
Dass Schlingensief die skizzierte Ahnenreihe in seiner neuen Produktion "Kunst und Gemüse" an der Berliner Volksbühne ausgiebig zitiert, zeigt, wohin die Reise geht. Spätestens seit dem flauen Echo auf seine "Parsifal"-Inszenierung im sommerlichen Bayreuth war klar, dass die Klassikerwerdung Schlingensiefs nicht mehr zu bremsen ist. Statt den Grünen Hügel zur Explosion zu bringen, entdeckte der Gesamtkunstwerker in Wagner einen verehrungswürdigen Vorläufer.
An der Volksbühne macht Christoph Schlingensief nun Witzchen darüber, arbeitet sich dann aber fleißig wie ein Schüler der Harmonielehre von Wagner zu Schönberg durch. Dessen Kurzoper "Von heute auf morgen", aufgeführt von zwei Sängern und drei Musikern, bildet eine Klammer des bunten Abends. Die ganze Revue funktioniere wie ein Zwölftonstück, behauptet Schlingensief. Das bleibt freilich eine von tausend steilen Thesen, mit denen er die armen Rezensenten schon vorab via Presse, Homepage und Programmheft traktierte.
Witzig ist es allemal, wie er die Livemusik auf der Bühne mit einem selbst gedrehten Stummfilm synchronisiert, in dem Udo Kier und Irm Hermann trefflich grimassieren. Nett auch der Vorfilm, in dem ein "Kunst-und-Gemüse"-Laden voller Spielfilmnazis von einem Rollkommando unter Führung Schlingensiefs in Stücke gehauen wird. Und wagnerisch überwältigend sind manche Bilderlawinen der künstlerischen Großinstallation, als die der Theaterabend annonciert wurde: mit bizarren Videoprojektionen auf einer rasend schnell zirkulierenden Drehbühne, mit raffinierten Überblendungen auf diversen Vorhängen, mit komplizierten Bild- und Toncollagen. Zumindest bühnentechnisch ist dies Schlingensiefs bisher überzeugendste Produktion an der Volksbühne.
Doch Avantgarde will mehr, will den Vorstoß ins Noch-nicht-Dagewesene (oder das, was ein Künstler dafür hält). Schlingensief beschreibt seine Methode in einem Interview genau: "Meine Projekte waren immer schon ein Organismus, der in Gang kam und außer Kontrolle geriet". Was macht der Avantgardist, um nicht zu früh zum Klassiker zu erstarren? Er baut sich eine unberechenbare Konstellation mit lauter unbekannten Akteuren. Er heuert den farbigen Regisseur Hosea Dzingirai aus Zimbabwe an und bezeichnet sich selbst als "Produzent".
Schlingensief verwischt also die Urheberschaft an dem Kollektivprojekt, er nennt zahlreiche andere Künstler als Mitarbeiter, darunter etwa Paul McCarthy, dessen Figuren mit ihren überlebensgroßen Obstköpfen er einfach frech kopiert. Auch die Grenzen zwischen Laienschauspiel, Behindertentheater, Kabarett, großer Oper, Filmkunst, Videoinstallation, Kunstvernissage und Realityfernsehshow verschwimmen.
Sehr neu ist das alles nicht, schließlich ist Schlingensief nicht der erste, vielleicht eher der letzte Avantgardist. Den ultimativen Kick holt er sich aus dem Krankenhaus. Im Publikum liegt eine bewegungsunfähige, künstlich beatmete Frau aufgebettet, die an amorpher Lateralsklerose leidet. Das ist jene tückische Nervenlähmung, die durch den Prozess um den koksenden Malerfürsten Jörg Immendorf eine Zeit lang zu Schlagzeilen führte. Dem Künstler wurden wegen dieser unheilbaren und zum Tode führenden Krankheit mildernde Umstände eingeräumt.
Nur noch durch Augenbewegungen, die über einen Laserstrahl ein Computerdisplay steuern, kann Schlingensiefs Patientin sprachlich kommunizieren. Sie werde aber den zweistündigen Theaterabend dirigieren, lässt der Produzent ankündigen. Auch das bleibt am Ende heiße Luft: Lediglich ein paar trotzige Statements über ihr Leiden kann sie zum Besten geben: "Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen."
Christoph Schlingensiefs Theater ist ebenso wenig krank, es zappelt und zappt bloß wie verrückt. Letzte Einstellung, ein Videobild im Cinemascopeformat: Schlinge and Friends beschmieren sich mit bunter Farbe und gruppieren sich zum Familienfoto. In der Volksbühne wird da applaudiert. Dann gehen alle Spieler noch zum Krankenbett im Zuschauerraum und singen "Happy Birthday to you". Das gelähmte Gesicht, das angestrengt zu lächeln versucht, ist die ganze Zeit in Großaufnahme zu sehen. Man wird es nicht so bald vergessen. Und man kann Schlingensief nicht mal böse sein: Im etablierten Kunstberserker steckt halt auch nur ein sentimentaler Hund.
Nächste Vorstellungen am 24., 26. und 27. November. Weitere Informationen unter http://www.schlingensief.com
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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