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Theater ALS Lähmung
Schlingensiefs »Kunst und Gemüse, A. Hipler« an der Volksbühne
Von Hans-Dieter Schütt
Die Globalisierung macht Ernst. Christoph Schlingensief, nunmehr auch Produzent, holt Simbabwe ins Haus: Hosea Dzingirai – so heißt der Regisseur von »Kunst und Gemüse, A. Hipler« an der Berliner Volksbühne.
Stacheldraht. Volksempfänger. Schreibtisch. Ein Foto der Bayreuther Wagner-Familie. Zwei Leinwände. Filmfetzen mit verwüstetem Gemüseladen und einem Auto mit Totenkopf. Zwei Sänger singen Schönberg-Oper. Auf den Leinwänden die Verfilmung dazu – mit Irm Hermann, Udo Kier. Später kommt ein Staubsauger zum Einsatz, auch ein heftig dreinschlagender Gummihammer. Wagner-Kulissen dampfen. Irgend jemand schreit nach Jean-Luc Godard. Auf einem Schild steht: Wolfgang Bach. Und: Richard Bach. Nicht Wagner. Vorgelesen wird aus Bayreuths Betriebsregeln. Eine Plakatschrift annonciert das Café Kabul. Einer spielt Johannes Heesters, der einen Rühmann-Hit singt und die Nazi-Zeit lieblich dement vergessen hat. A.Hipler lässt grüßen.
Die Dramatik des Abends? Den zwölf Tönen Schönbergs entsprechen zwölf Spieler: Jeder macht seins. Ein Fest der Dissonanzen, die sich einig sind. Ein dreizehnter Ton/Spieler steht fürs »W«, fürs Wiederholungsmotiv. W wie Wagner. Vom Publikum aus dirigiert Hosea Dzingirai die wirre Szene.
Szene? Schlingensief nennt’s eine Kunstausstellung. Die Flickwerk-Collection sozusagen. Ein Bilderreigen aus zwölf Halbtönen, aber ganzen Menschen, aus »zwölf Wegen zur Erstarrung«. Eine Performance. Dirigiert nicht nur von Dzingirai, sondern auch von Angela Jansen. Diese Frau liegt während der Aufführung im Zuschauerraum im Bett und schreibt mit Hilfe eines Laserauges auf eine Computertastatur. Jansen leidet ans ALS (Amyotrophe Laterialsklerose) – einer Erkrankung des motorischen Nervensystems, hin zur völligen Lähmung. Angela Jansen wird seit 1998 künstlich beatmet, nur die Augen kann sie bewegen. Und ihren Geist. Jansen schreibt Erläuterungen zu ihrer Krankheit aufs Computerbild, grüßt so den Maler Jörg Immendorf, der auch an ALS erkrankte. Dieses Leiden: das Hieb- und Stichwort. Theater ALS Krankheit. Der Bühnenbetrieb ALS Lähmung. Eine Krankheit, die mehr als nur Theater ist: Gesellschaft. Jede Handlung besteht hauptsächlich aus der Erstarrung, in größeren Zusammenhängen Sinngebendes zu tun. Schlingensiefs Thema. Die Zwölf-Ton-Musik als Idee, Ich und Wir neu zusammenzufügen. Weitestes Feld für Narren.
Vor dieser Inszenierung kapituliert jeder Rezensions-Versuch. Schön. Man war ja auch nicht im Theater, sondern neunzig Minuten im flirrenden, gemüsebunten Ausnahmezustand zwischen Voyeurismus und Tiefenforschung. Hochintelligent das theoretische Beiprogramm im Internet (Duchamp, Groys, Adorno, Hegemann), witzig die Schlingensief-Interview-Sätze im Vorfeld, etwa: »Haftung (für das, was in der Welt geschieht) wollen wir nicht übernehmen. Lieber Verstecken. Und irgendwelche DesireeNicks im Dschungelcamp anschauen, die sich Maden in die Scheide schieben.» Vor so viel Gedankenhöhe muss jede Aufführungspraxis scheitern. Na und? Am Denken scheitert jedes Material. Und setzt sich trotzdem durch. Vielleicht »dient« diese Aufführung nur dazu, sich als Zuschauer hinterher mit der eigenen Verwirrung, mit dem Erwartungsselbstbetrug zu beschäftigen? Da sitzen Hunderte Halb- und Viertelintellektuelle in der Volksbühne, hartgesottene Theatergänger, beschäftigt auf allen möglichen Spielwiesen des Überbaus – und sie bleiben auf ihrer Gebildetheit, ihrem Kunstsinn, ihrem Erlebnis-Anspruch, ihrer Überlegenheit sitzen wie auf einem Ladenhüter. Aber am Ende bleibt doch – zum Beispiel – eine Frau im Gedächtnis! Angela Jansen. Ein Wesen aus dem Leben, zugleich ein Wesen aus der Kunst. Unserer Verdrängungskunst gegenüber allem, was uns beschämt. Ist das nicht viel?
Der stärkste Satz des Abends stammt von Angela Jansen, und warum soll ein Erschütterung nicht darin bestehen, vielleicht nur von einem einzigen Satz bedrängt zu werden. Die Theater müssen sparen – Hauptsache, es reicht für einen wirklich guten Verpflegungs-Satz. Dieser Satz der am Bett Gefesselten lautet: »Mir fehlt nichts. Ich kann mich nur nicht bewegen.« Ein Satz, den ich oft denke. Während ich durch den Tag renne.
Es besteht eine seltsame Beziehung zwischen dem gespielten Tohuwabohu auf der Bühne und der im Bett liegenden Jansen. Chaos – und Konzentration, Schrei – und Stille. Wir sitzen vor zwei Welten, die uns das Kunsterlebnis verweigern. Das Ganze ist unter jenem Gedanken Elfriede Jelineks zu sehen, der ein Theater beschwört, »wo der Zuschauer einfach mal allein gelassen wird und in ein Loch fällt und dadurch vielleicht etwas über sich erfährt.« Vielleicht.
Schlingensief und sein Völkchen der Randständigen, dieser Autisten mit plötzlich so prunkvoller, fröhlicher Identität auf wahrlich offener Bühne: So wie Kafka nicht wusste, dass er Kafka ist, so strahlen diese Menschen, die geistig und körperlich darin behindert wurden, so zu werden, wie wir sind, immer wieder eine starke, reflexionsfreie Aura der Neubelebung aus. So dass man nur ergriffen staunen kann. Lauter Don Quichotes, lauter Sancho Pansas, lauter koboldige Könige, deren unbekümmert vorgeführtes Reich aus jener Fehlerquote besteht, die sie von anderen Menschen trennt.
Diese Leute werden von Schlingensief nie instrumentalisiert, sondern in nach wie vor sensationeller Weise in glückliche Lebensmomente freigelassen. Mit ihnen hat der Regisseur ein Theater der ziellosen Bewegung geschaffen. Zeittiefer geht‘s kaum. Ein Theater des ewigen, organisiert planlosen Kreisens um die große Leerstelle. Man bezahlt als Zuschauer nicht Eintritt, sondern entbietet lehrreiche Leerstellenzwangsabgabe.
Nächste Aufführung am 24. 11.
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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