English Deutsch Argentina
Brasil Chinese Latvijas
Christoph Schlingensief: Deutscher Pavillon La Biennale di Venezia 2011
Foto: © Roman Mensing
Operndorf Afrika (Remdoogo)
Oper
Installation
Theater
Film
Aktion
Hörspiel
Fernsehen
Kolumnen
Atta-Kunst
Deutscher Pavillon 2011:
Christoph Schlingensief

Tot in Venedig (SPIEGEL)


Soll ein verstorbener Künstler den Deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig bespielen? Eine Vorbesichtigung lässt alle Zweifel schwinden: Erst Schlingensief ohne Schlingensief offenbart Schlingensief.


Aino Laberenz trägt rosa Nagellack. Sie wartet im Schatten der Bäume, in den Giardini von Venedig, vor dem Eingang des Deutschen Pavillons, dieses steinernen neoklassizistischen Geschichtsgrabes, 1909 gebaut, von den Nazis umgestaltet. "Germania" steht dort sonst über dem Eingang, eine dunkle Drohung. "Egomania" soll dort während der Biennale stehen, ein dunkles Versprechen. Aino Laberenz trägt auf dem Unterarm ein Rubbeltattoo für Kinder. Es ist ein Schmetterling.

Sie ist die deutsche Witwe. Sie war mit Christoph Schlingensief verheiratet, dem Splatter-Filmer, dem Bayreuth-Regisseur, dem Nationalkünstler, dem Beuys unserer Tage. Sie trägt ihren Ehering am Finger und den großen goldenen Ring des Ehemanns an einer schweren Kette. "Mir wird jetzt erst richtig bewusst, wie sehr Christoph fehlt", sagt Aino Laberenz, und die Tränen steigen ihr in die Augen. "Ich wäre schon glücklich, wenn er einfach hier sitzen könnte und lächelte."

Es sind anstrengende Tage für sie. Beim Theatertreffen in Berlin wurde gerade Schlingensiefs letzte Inszenierung "Via Intolleranza II" gezeigt. Zuvor flog sie zu Schlingensiefs letztem Projekt, einem Operndorf in Burkina Faso. Nun also Venedig. Endlich gibt es Strom. Endlich laufen die Videos. Ein guter Tag.

Sie geht die wuchtigen Steinstufen hinauf. Drinnen öffnet sich eine weihevolle, kühle Kirche: Altar, Mosaikfenster, Kirchenbänke, Liedtafel. Nur nach Weihrauch riecht es nicht. Es ist die Kulisse einer Inszenierung aus dem Jahr 2008: "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" hieß sie und ist die Nachbildung jener Kirche in Oberhausen, in der Christoph Schlingensief zwölf Jahre lang Messdiener war.

Erster Eindruck: Joseph Beuys. Ein ausgestopfter Hase hockt auf dem Altar, auf einem Banner steht Flux, eine Gottheit mit Fratze und erigiertem Penis hängt an der Wand. Zweiter Eindruck: Christoph Schlingensief. Kurioses mischt sich mit Eindeutigem, hinter dem Altar steht ein Hochstuhl, wie man ihn vom Tennis kennt, daneben ein Krankenbett, Schlingensiefs Röntgenaufnahmen kleben am Leuchtbrett.

Deutscher Pavillon: Christoph Schlingensief
Deutscher Pavillon: Christoph Schlingensief  © Roman Mensing, artdoc.de
Schlingensief hatte 2008 ein "Requiem für einen Untoten" geschaffen. Er trat selbst auf, er war voller Zuversicht, den Lungenkrebs noch einige Jahre zu überleben. Nun tritt niemand auf.

Schlingensief starb im August 2010 kurz vor seinem 50. Geburtstag, mitten in der Arbeit am Pavillon. Seither fand eine Geisterdiskussion darüber statt, ob man das machen darf, zum ersten Mal: ein Toter in Venedig, den Deutschen Pavillon für sich allein. Und seither führen zwei Frauen einen gemeinsamen Kampf um das Erbe dieses Mannes, die Kostümbildnerin und Witwe Aino Laberenz, 30, und Susanne Gaensheimer, 44, Museumsdirektorin in Frankfurt am Main und Kommissarin für den Pavillon.

Die Schau, wie sie jetzt zu sehen ist, lässt Schlingensiefs kuriose Karriere auferstehen, vom Schmuddelkind zum Jesus der Bildungsbürger. Sie zeigt, wie er sich vom Film zum Theater zur Kunst bewegte, immer auf der Suche nach der guten Energie. Sie präsentiert Schlingensief als Verbindungsglied zwischen den trashigen Untergangsphantasien der neunziger Jahre und den spirituellen Erlösungswünschen unserer Gegenwart - in der katholischsten Form, dem Triptychon.

Im Mittelbau des Pavillons ist die Rauminstallation "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir", sie ist Schlingensiefs Krankheit gewidmet. "Wir haben uns dafür entschieden, weil man daran gut sehen kann, wie Christoph sich mit anderen Künstlern auseinandergesetzt hat", sagt Susanne Gaensheimer. Da baut sich Schlingensief seine Beuys-Fettecke, es gibt eine Variante von Valie Exports Busengrapsch-Karton, Wiener Aktionismus, Fluxus, Nam June Paik.

Im Trakt links davon wird Schlingensiefs Afrika-Engagement gezeigt, ohne Albert-Schweitzer-Pathos, dafür mit einem Modell und Aufnahmen zum Stand des Operndorfs von Ouagadougo. Im rechten Trakt sind sechs von Schlingensiefs Filmen zu sehen, "Egomania" von 1986 etwa mit seiner ehemaligen Freundin Tilda Swinton oder die Deutschland-Trilogie mit dem legendären "Kettensägenmassaker".

"Die Filme", sagt Aino Laberenz, "waren uns sehr wichtig, weil sie zeigen, wie Christophs Arbeit begann." Keine Werkschau sollte es werden, sondern eine Einführung in den Kosmos Schlingensief anhand der Leidenslinien Deutschland und Krebs, anhand des optimistischen Ausblicks auf Afrika. Leiden und Erlösung.

Und nichts könnte stimmiger sein. Das sind die zwei zentralen Themen Schlingensiefs, von den ersten Filmen bis zu seinen letzten Theaterarbeiten. Da wird gemordet und gemetzelt und gestorben in diesen Filmen. Da ist der Tod ständig präsent. Dieser Mann war Pathologe.

Er benutzte den Tod wie ein Werkzeug, mit dem er seine Zeit sezierte. Er setzte Krankheit ein mit dem ganzen Pathos und der Wut eines Mannes, der nicht an das gemeine Konzept von Gesundheit glaubte. Er öffnete sich seinem Krebs und seinem Sterben auf eine Art und Weise, die nicht exhibitionistisch war, wie viele dachten, sondern authentisch: Schlingensief lebte in Gegenwehr zur Gegenwart.

Er war die Wunde, so wollte er es. Zeige deine Wunde, und du wirst geheilt, so sagte Schlingensief es mit Joseph Beuys. Er war ein sehr deutscher Künstler in dieser Todesfaszination und dabei doch Richard Wagner genauso nah wie Jean-Luc Godard.

Überhaupt ergeben sich merkwürdige Überschneidungen, jetzt, wo sich sein Werk so präsentiert, nackt und gleichzeitig wie ein Klassiker. Er war deutsch wie Dürer und lustig wie Lubitsch. Er hatte Friedrich Wilhelm Murnaus expressionistische Schreckensnummer genauso drauf wie Rainer Werner Fassbinders exzessives Geschichtsmelodram. Er liebte das Pathos und den Slapstick, er war ein Bilder- und Gedankenquirl, der am Ende doch ein Aufklärer blieb, was erst einmal merkwürdig klingt bei jemandem, der so viel Wirrnis und Wahn verwirbelte.

Deutscher Pavillon: Christoph Schlingensief
Deutscher Pavillon: Christoph Schlingensief  © Roman Mensing, artdoc.de
Das ist das überraschende Fazit dieser Schau im Deutschen Pavillon von Venedig: Erst Schlingensief ohne Schlingensief offenbart Schlingensief. Sein Tod, seine Abwesenheit öffnen den Blick auf ein Werk, das von trotziger Energie und heiterer Verzweiflung ist. Freie Sicht aufs Mittelmeer!

Das ist ein Spruch aus der Tiefe der achtziger Jahre, und aus dem Geist dieses Anarcho-Dadaismus erklärt sich auch Schlingensiefs Schaffen. Es war die Zeit nach Punk, es war die Zeit nach New Wave, es war die Zeit, als sich das Leiden an diesem Land mit einer gnadenlos guten Laune mischte, die ein jähes Ende nahm, als es nach dem Fall der Mauer 1989 wieder Ernst wurde mit Deutschland.

Schlingensief reagierte wie ein trotziges Kind. Er rettete sich in die Art von höherem Quatsch, die viel über die Ängste, Lügen und Widersprüche jener Jahre sagt. Sein Film "Das deutsche Kettensägenmassaker" von 1990 ließ kein Klischee und keinen Kalauer aus, war wüst und wild und zeigte die Wiedervereinigung als grausames Blutgesudel, unter dem Motto: "Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst".

Sextrieb, Sauberkeitswahn, Metzgersgeilheit und Nationalismus trafen in diesem absichtsvoll billig hingeworfenen Horrorfilm auf eine Art und Weise zusammen, die mit einer antiautoritären Abwehrreaktion auf Schlingensiefs Kindheit als Ministrant nicht allein zu erklären ist. Das Leiden an diesem Land ging tiefer. Ekel und Faszination vermischten sich. Schlingensief wurde politischer Künstler aus Notwehr.

Wie unfrei und gefangen in der Geschichte er dabei selbst war, zeigt der erste Teil seiner Deutschland-Trilogie, "100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Stunde im Führerbunker" von 1989. Es ist ein Anti-"Untergang", lange bevor Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel ihren Film drehten. Udo Kier als AH, er zeigt die Bunkergesellschaft im Kokaindelirium, es ist wie immer bei Schlingensief eine große Referenzschlacht.

Dabei hat dieses Bildergemetzel durchaus einen tieferen Grund. Seine Großmutter, sagt Schlingensief in einem Interview, sei weitläufig mit Joseph Goebbels verwandt gewesen. "Ich habe die Angst in mir", sagt er, die Angst vor dem KZ-Aufseher in ihm. Deshalb habe er "Hitler abnutzen" wollen, indem er dem Publikum das Bild Hitlers "zum Gebrauch" hinwirft. Das ist das Schlingensief-Prinzip: Bilder gegen Bilder, Gedanke gegen Gedanke, Hitler gegen Hitler. Am Ende diente der ganze Schmutz, sehr deutsch, doch vor allem der Selbstreinigung.

Also: Käseglocke hoch, Tempel sprengen, das falsche Wort, jetzt! Das war sein Credo, mit dem er in den folgenden 20 Jahren seine Zeit durchpflügte, visionär vorpreschend, von rasender Energie getrieben, mal irrlichternd, mal erleuchtend, hin, hin, hin, Hauptsache, es tat weh. Wie Laokoon mit den Schlangen, so rang dieser Deutsche mit der Geschichte.

Deshalb machte er 1992 seinen Film "Terror 2000 - Intensivstation Deutschland" und reagierte unmittelbar auf die Ausländerfeindlichkeit, immerhin ohne sich in den Moralismus zu retten - er zeigte brennende Hakenkreuze und Ku-Klux-Klan-Kapuzen, er erzählte von Onanie und Alltag und stellte die Frage: Bin ich obszön, oder seid ihr es?

Deshalb rackerte er sich weiter an Geschichte und Gegenwart ab, als er an der Berliner Volksbühne Mitte der neunziger Jahre "100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen" inszenierte, "Kühnen 94 - Bring mir den Kopf von Adolf Hitler" und "Rocky Dutschke '68" - er wollte, dass die Bilder sich abnutzen, er wollte sich selbst erlösen von dieser unheiligen Verstrickung.

Deshalb bestieg er am 9. November 1999 in New York zum "Deutschland Versenken" eine Fähre, er hatte eine Urne dabei, in die er den ganzen deutschen Geschichtsmüll gepackt haben wollte, er ließ Musik von Wagner laufen und warf die Urne über Bord - wo sie dann im trüben Wasser des Hudson River dahintrieb wie ein Sinnbild einer Schuld, die einen immer wieder einholt.

Deutscher Pavillon: Christoph Schlingensief
Deutscher Pavillon: Christoph Schlingensief  © Roman Mensing, artdoc.de
All das wird jetzt wieder präsent, in dem scheußlichen Steinmonstrum, das der Deutsche Pavillon in Venedig immer bleiben wird. Die Kuratorin Gaensheimer suchte dafür einen explizit politischen Künstler. Sie suchte aber keinen, der sich vordergründig nur mit der Geschichte des Pavillons beschäftigt. Dass sie Schlingensief fand, überraschte dann doch viele.

Damals, 2010, schien Schlingensief gerade in mehreren Kopien durch die Welt zu preschen, vom Tod getrieben, ein Messias in eigener Sache. Eine Oper in Berlin, Theater, sein Krebs-Bestseller "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" und dazwischen Afrika, immer wieder Afrika. Nie war Schlingensief so präsent wie kurz vor seinem Tod.

Den Netzwerker, den SMS-Virtuosen Schlingensief kannte Gaensheimer gar nicht persönlich. Sie besuchte ihn in seiner Wohnung in Berlin, "einfach so, um sich kennenzulernen". Sie musste etwas warten, das Anziehen dauerte, Schlingensief hatte nur noch den rechten Lungenflügel. Es war mittags, man siezte sich. "Irgendwann kamen wir auf den Pavillon zu sprechen. Er fand es langweilig, dass immer nur die Nazi-Vergangenheit des Gebäudes beackert wurde. Die Aufgabe sei doch, Leben da hineinzubringen."

Sie fragte ihn noch an Ort und Stelle, ob er das machen wolle. "Er sagte, wenn er das geahnt hätte, dann hätte er lieber gleich im Pyjama aufgemacht." Einen Tag später bekam Gaensheimer die Zusage aufs Handy: "Wenn wir uns gegenseitig versprechen, jede - und sei sie auch noch so blöde - Idee aussprechen zu dürfen (ohne Peinlichkeitsgefühl, obwohl auch Peinlichkeit ein grosses Produktionskapital besitzt), dann würde ich eigentlich sehr gerne JA sagen." Später schickte er noch eine SMS hinterher: "Ach, übrigens, wollen wir uns nicht duzen? (Ich bin der Christoph)".

Schlingensief plante etwas Großes, Grandioses für Venedig. Er fragte sich lange schon, "wieso wir Afrika helfen wollen, wo uns doch selbst nicht zu helfen ist". Mit Afrika sollte auch der Pavillon zu tun haben. Er wollte ein "Afrikanisches Wellnesszentrum" bauen, später nannte er es das "Deutsche Zentrum für Wellness und Vorsorge". Schwimmbad, Sauna, Hamam, es sollte Kältebehandlungen, Massage und "afrikanisches Ayurveda" geben und die Möglichkeit für den Besucher, mit einem Speicheltest seine genetische Abstammung prüfen zu lassen.

Eine medizinische Kirmes, ein mythischer Ort, irgendwo zwischen Satire des deutschen Afrikakults und Spektakel zum Vorsorgeirrsinn. Man hätte den Pavillon besteigen können, um von oben wie durch eine Linse das Ganze zu beobachten. Innen sollten Filmbilder einer afrikanischen Landschaft projiziert werden, jedes 24. Bild ein Fehlbild: Elend, ein hungerndes Kind, Kindersoldaten.

Es war die Assoziation der rassischen Völkerschauen und Kolonialausstellungen, die Schlingensief bewegte. "Vom Giebel der Fassade sollte eine riesige Negermaske mit einer beweglichen, übergroßen Unterlippe hängen, die heruntergelacht hätte", sagt Gaensheimer. "Die Verführung war groß, diese wahnsinnig gute Idee umzusetzen."

Sie klingt noch immer wehmütig, wenn sie von den Plänen erzählt, nachzulesen in einem Buch, das diese Woche erscheint(*). Wäre es gegangen? Es wäre gegangen. Doch die Frage war nach Schlingensiefs Tod philosophischer: Darf es in unserer Zeit noch das Unvollendete geben? Susanne Gaensheimer und Aino Laberenz entschieden: Ja.

Der Pavillon ist nun ganz im Sinne Schlingensiefs entstanden. Er war der Meister der Improvisation, des prozessualen Arbeitens, des Unperfekten. "Scheitern als Chance!" war einer seiner Schlachtrufe. In diesem Geiste haben Laberenz und Gaensheimer den Pavillon gedeihen lassen. Es ging viel schief, und als gerade die heiße Schlussphase beginnen sollte, knickte Susanne Gaensheimer um, Bänderriss, sie konnte kaum noch laufen, vor allem nicht auf dem unebenen Boden der Giardini in Venedig.

Aino Laberenz sprang ein und reiste nach Venedig. Dass es kein Zurück gab, war für beide immer klar. "Für mich ist Schlingensief einfach einer der wichtigsten Nachkriegskünstler Deutschlands", sagt Gaensheimer.

Er funktionierte, auch das wird in dieser Schau deutlich, fast wie ein Medium: Er nahm alles auf, was um ihn herumschwirrte. Dass das womöglich nicht gesund sein konnte, ahnte er selbst. Schon während seiner Arbeit am "Parsifal" in Bayreuth 2004 prophezeite er, erzählt Aino Laberenz, dass er davon an Krebs erkranken würde.

Damals war er, den sie einen Provokateur nannten, einen Scharlatan, einen Zirkusdirektor, längst angekommen im Herzen jener Hochkultur, die er mal bekämpft hatte. Es ist eine der unwahrscheinlichsten Kunstkarrieren der letzten 20 Jahre. Als er 1997 auf der Documenta in Kassel dazu aufrief, Helmut Kohl zu töten, holte ihn die Polizei. Als er tot war, bekam er einen Bambi.

Erst wurde er aus den falschen Gründen gehasst, dann aus den falschen Gründen geliebt. Schlingensief war nie der Schlingel, der nur verschrecken wollte, er war aber auch nicht der Schwiegersohn, zu dem er fast verniedlicht wurde. Er war immer ein Künstler, der sich selbst retten wollte und damit die Welt.

Die späte Liebe zu Schlingensief lässt sich dabei auch damit erklären, dass sich etwas geändert hatte in diesem Land. Trash war Mainstream geworden, das Hadern mit dem Nationalismus schien langsam zu verebben, die Wut und der Ekel verloren sich, aus dem Geschichtsreflex wurde Geschichtsroutine. Es war die Liebe zu einem entpolitisierten Künstler.

Das ist ein Widerspruch, den die Schau in Venedig nicht auflösen kann. Vielleicht zeigt es aber auch nur, dass Schlingensief sich weiterentwickelt hatte. Er suchte nun nicht mehr nach der Angst dort draußen, er suchte nach der "Angst vor dem Fremden in mir". Und so ist "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" tatsächlich ein Schlüsselwerk und eine Neuentdeckung.

In der Kirchenkulisse wird, wie auch damals bei der Inszenierung, über dem Altar ein Film Schlingensiefs projiziert: Der Film zeigt eine surreale Trauerfeier, bei der zwei Schalen in der Form von Lungenflügeln mit roter Farbe gefüllt sind. Die Gäste dieser Trauerfeier tauchten ihre Hände dort hinein und schmierten sie auf einem weißen Leintuch ab. So besudelt hängt es jetzt im Pavillon, heilig, entweiht, blasphemisch und frei.

Vielleicht sah sich Schlingensief so selbst am Ende. Freisetzen, freilassen, weitermachen, das waren Schlingensief-Worte. Hier soll nichts verheiligt oder verkitscht werden, wie nach dem Tod von Joseph Beuys. "Mal gucken, wie stark die Arbeiten sind", sagt Aino Laberenz und klingt ganz offen.

Es ist also keine Feier des Lebens geworden, aber immerhin ein Fanal gegen das Verlöschen. Ein deutsches Trauerspiel. Thomas Mann schrieb davon, in "Der Tod in Venedig", dass "beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual".

Von Georg Diez und Nora Reinhardt, DER SPIEGEL 22/2011 (PDF-Version)


(*) Susanne Gaensheimer (Hg.): "Christoph Schlingensief - Deutscher Pavillon - 54. Biennale Venedig 2011". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 368 Seiten; 29,99 Euro. Mit Beiträgen von Diedrich Diederichsen, Charlotte Roche, Jonathan Meese, Alexander Kluge, Carl Hegemann und anderen.




Materialübersicht zur Biennale di Venezia 2011

- GALERIE PRESSEBILDER - Fotos der Installation im Deutschen Pavillon
- TOT IN VENEDIG - Der SPIEGEL Nr. 22/2011
- DER LÖWE FÜR DEN LÖWEN - Frankfurter Rundschau vom 5.6.2011
- SCHLINGENSIEFS SAKRALE KULISSE - Berliner Morgenpost, 1.6.2011
- REQUIEM FÜR SCHLINGENSIEF - RP Online vom 4.6.2011
- SUSANNE GAENSHEIMER IM INTERVIEW - art - Das Kunstmagazin vom 1.6.2011
- "ES WAR DIE ERSCHÜTTERNDSTE ARBEIT" - Der Standard vom 6.6.2011
 ERINNERUNGEN VON WEGGEFÄHRTEN - Deutschlandradio-Kritik zum Katalog
 MAUSOLEUM ODER MONUMENT? - Deutschlandfunk Kultur heute, 2.6.2011
 VERNISSAGE TV - Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon (28 MB)
 3SAT KULTURZEIT - 3sat Kulturzeit vom 6.6.2011 (40 MB)
 ZDF HEUTE JOURNAL - ZDF Heute Journal vom 4.6.2011 (29 MB)
 DEUTSCHE WELLE TV - Deutsche Welle TV vom 4.6.2011 (5 MB)
 DW KULTUR.21 - DW-TV Kultur.21 vom 4.6.2011 (26 MB)
 DEUTSCHER PAVILLON - BiennaleChannel vom 4.6.2011 (21 MB)
 ZDF NACHTSTUDIO - ZDF Nachstudio zur Biennale vom 6.6.2011 (95 MB)

Projekt-Dossier

- Übersicht


Bildergalerien

- Bildergalerie Pavillon


Pressespiegel

- Tot in Venedig
   (SPIEGEL)
- Der Löwe für den
   Löwen
(FR)
- Sakrale Kulisse in
   Venedig
(Morgenpost)
- Requiem für
   Schlingensief
(rp)
- Susanne Gaensheimer
   im Interview
(art)
- "Es war die erschüt-
   terndste Arbeit"

   (Der Standard)
 Mausoleum oder
   Monument?
(DLF)
 Erinnerungen von
   Weggefährten
(DRK)


Videos

 Vernissage TV
   (Video, 28 MB)
 3Sat Kulturzeit
   (Video, 40 MB)
 ZDF Heute Journal
   (Video, 29 MB)
 Deutsche Welle TV
   (Video, 5 MB)
 DW-TV Kultur.21
   (Video, 26 MB)
 Deutscher Pavillon
   BiennaleChannel

   (Video, 21 MB)
 ZDF Nachtstudio
   (Video, 95 MB)


Externe Links

- Deutscher Pavillon
- Biennale di Venezia
- Operndorf Afrika