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Der Zwischenstand der Dinge
Schlingensiefs Krebstheater in Berlin (Die WELT)
Von Reinhard Wengierek
Eine Menschentraube vor der hohen Tür des winzigen, mit tout Theater-Berlin überfüllten Studios des Gorki-Theaters: lauter Optimisten, die unverdrossen auf eine Karte hoffen. Für eine der drei landesweit einzigen Vorstellungen von Christoph Schlingensiefs beherzt herzzerreißendem, magisch spirituellem Welt- und Selbstentblößungstheater, vor dessen Beginn von nebenan die Domglocken donnern durch die Vollmondnacht. O Gott, hat der todernst verspielte, der trickreich wirkungssüchtige Chaos-Theatraliker und bekennende Christ wie Antichrist, auch das noch organisiert?
Nein, den pässlichen Effekt hat ihm der liebe Zufall spendiert. Quasi als Ouvertüre für "Der Zwischenstand der Dinge", Christoph Schlingensiefs Diskurs mit dem Karzinom in seiner Lunge sowie im menschheitlichen Dasein überhaupt. Wird geheilt, wer seine Wunden zeigt?
Schlingensiefs rückhaltlos offene, zugleich geheimnisvoll spinnerte, verrückt ins Fantastische treibende und doch immer wieder hellsichtig die Todesangst umkreisende Schnipsel-Paraphrase aus Video, Musik, Patiententagebuch, Memoiren und Kabarettistischem entstand im Frühsommer dieses Jahres. Nachdem der mit 48 Jahren mitten im Leben Stehende die niederschmetternde Diagnose erfuhr und sich entschloss, die Flucht nach vorn auf den OP-Tisch anzutreten, statt sich "aus dem Fenster zu stürzen oder im Urwald zu verkriechen, um dort zu verrecken". Die Reflexion einer grauenvollen Lebenssituation in eisiger Einsamkeit als Grundlage einer tief ins Allgemeinmenschliche ragenden szenischen Skizze, das ist "Der Zwischenstand der Dinge", vor knapp einem halben Jahr im Berliner Gorki (u.a. mit Margit Carstensen und Angela Winkler) einer geschlossenen Gesellschaft vorgeführt. Als Vorarbeit für ein unvergessliches Spiel vom knappen Überleben und mit dem Tod auf Tuchfühlung Sein; eine Art Albtraum-Oratorium, das als "Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" Mitte September zum Festival RuhrTriennale in Duisburg dem gebannten Publikum das Atmen schwer machte.
Jetzt wurde "Der Zwischenstand" fortgeschrieben. Auf neuen Stand gebracht, "der ziemlich Scheiße ist" nach diversen High-Tech-Chemos, einer diffusen Prognose sowie dem ätzenden Gefühl des "Leer- und Totseins". Das wirft die Frage auf, wer wohl mehr leiste für die Welt: der Aktive oder der Erleidende.
"Man kennt bloß das Entweder und das Oder, nie alles zusammen. Und die Sehnsucht nach dem Unerfüllbaren. Du Armer, Armer, Armer", ächzt unser so produktiv Leidende mit den schreienden Augen.
Bei ekstatischer "Tristan"-, dräuender "Parsifal"- und weher Schubert-Musik hadert dieser schwer wunde doch unverwüstliche Scherzkeks und Schmerzensmann mit Vater, Mutter, Gott, dem Dasein und der Kunst ("Avantgarde, Marmelade"). So stürzt er sich - mit seiner Kunst - heraus aus seinem Schicksal hinein in die Performance. Stellt sich neben sich, zeigt mit heiligem Ernst und teuflischem Witz auf sein Los. Und auf uns.
"Auf Wiedersehn!" soll dereinst auf seinem Grabstein stehen. Dies sei die ihm vorstellbar schönste Drohung. Draußen die Glocken, drin wabert Weihrauch. Das Publikum, durch Mitleid ein klein wenig wissender, schweigt. Schweigt lange. Traut sich nicht zu klatschen; dann aber doch und von Herzen. Denn wir sitzen, nicht vergessen, im Theater.
Erschienen in der WELT vom 15.11.2008
Materialübersicht zu »Der Zwischenstand der Dinge«
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Projekt-Dossier
- Übersicht
- TAZ-Interview
- Nachtkritik.de
- Berliner Zeitung
- Die WELT
- Süddeutsche
- Der Tagesspiegel
Radio Eins Interview vom 13. Nov. 2008 (MP3-Datei, 4.8 MB)
Externe Links
- Gorki Theater Berlin
Der Zwischenstand der Dinge
Gorki Theater Berlin
13., 14. und 15.11.2008
Ein Projekt von Christoph Schlingensief
Regie: Christoph Schlingensief
Regie-Mitarbeit: Anna Heesen, Aino Laberenz, Leonard Schattschneider
Bühne: Kathrin Frosch, Aino Laberenz
Kostüme: Aino Laberenz
Video: Meika Dresenkamp
Musik: Timo Kreuser
Mit: Michael Binder, Margit Carstensen, Hanna Eichel, Wanda Fritzsche, Kerstin Grassmann, Norbert Müller, Achim von Paczensky, Helga von Paczensky, Mira Partecke, Gunnar Teuber, Angela Winkler, Eva Zander
Gesang: Ulrike Bindert-Eidinger.
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