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Foto: David Baltzer
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100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen


1993 folgt Schlingensief einer Einladung nach Berlin an die Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz. Ein Anspruch an den Sprung vom Film zum Theater ist vorläufig nur lose formuliert: "Ich hasse Theater, das Begrenzungen vorgibt, feste Anfangs- und Endzeiten oder einen Raum, in dem man sich nicht bewegen darf. Ich möchte mich gleitend bewegen."


Insbesondere die beiden ersten Stücke, 1OO JAHRE CDU und KÜHNEN `94, unterscheiden sich wesentlich von den späteren, mit Erfahrungswerten angereicherten Arbeiten, wobei ROCKY DUTSCHKE `68 als entscheidender Schritt hin zum Schlingensief-Theater betrachtet werden kann. Erstere unternehmen noch den Versuch, eine nachvollziehbare Geschichte zu erzählen. An ein Verlassen der Bühne, gar des Theaterraums, ist noch nicht gedacht. Man spielt gewissermaßen gegen (Vierte) Wände. Zwar mangelt es nicht an lauten und auch hektischen Momenten, doch sind sie nicht als willkommene Mittel des Bühnenspiels zu erkennen; brutale oder obszöne Szenen zielen so plump wie offensichtlich auf den Schockeffekt ab und finden dabei über die Bühnenbegrenzung hinaus dennoch nicht ihren Ansprechpartner: das Publikum.



Szenenfoto aus 100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen (Foto: Baltzer)



Tragende Säulen des späteren Schlingensief-Theaters lassen sich jedoch schon in 1OO JAHRE CDU - SPIEL OHNE GRENZEN (1993) erkennen. Basis des Stücks ist der Showcharakter, eine Benefizgala für zwei Asylbewerber, deren Heimunterkünfte nieder gebrannt worden sind. Das Bühnenbild wird bestimmt von einer großen, sich drehenden Showtreppe in der Bühnenmitte, einem Stehpult mit Mikrofon und einer Talkshow erprobten Sitzgruppe am linken bzw. rechten Rand, die jeweils von Lichtkegeln angestrahlt werden.

Ein UNO-General (Alfred Edel) wettet in seiner Funktion als Quizkandidat, dass er innerhalb von 10 Minuten einem Türken aus Kreuzberg in den Kopf schießen kann, um kurze Zeit später mit einer abgetrennten `Jagdtrophäe´ auf die Bühne - in die Sendung - zurück zu kehren; ein weiterer Kandidat (Peter Met) versucht, mit einem Motorrad über mehrere Stahlschränke zu springen. Die Show nimmt Niveaulosigkeiten, die uns im Fernsehen noch bevor stehen, vorweg - und gerät dabei zunehmend außer Rand und Band: Die chaotischen Kandidaten massakrieren um die Wette, simulieren Orgasmen, verspeisen Exkremente für die gute Sache und kotzen den anwesenden Honoratioren aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Kultur auf das Kalte Büffet. Abschließend wird der Kreuzgang Christi imitiert, welcher, mit einer Waffe im Anschlag, die Frohe Botschaft des Abends verkündet: "Deutschland muss härter werden!" Währenddessen schwebt das Plakat eines Dornen gekrönten Schlingensief aus dem Schnürboden hinab.



Szenenfoto aus 100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen (Foto: Baltzer)



Hinter all diesem offenbaren Unfug parodiert 1OO JAHRE CDU, von Schlingensief als "offenes Kriegsschauspiel" angekündigt, die Verlogenheit im Umgang mit neofaschistischen und ausländerfeindlichen Tendenzen. Es kolportiert die medien- und damit gleichsam werbewirksame Zurschaustellung von Humanität und Betroffenheit, kritisiert in drastischen Bildern die permanent wieder belebbare Solidaritätsheuchelei der Öffentlichkeit und ihrer Vertreter.

Die ursprüngliche Fassung des Stücks sieht Schlingensiefs aktive Teilnahme noch gar nicht vor. Die Integration des Realen Störfaktors Schlingensiefs in die hermetische Inszenierung, die dann zu einem festen Element seiner Bühnenarbeit wird, ist letztlich ein Zufallsprodukt. Der Ernsthaftigkeit seines Anliegens steht die Unbekümmertheit des Publikums gegenüber, das das Meucheln und Morden als Clownerie belächeln. Schlingensief entschließt sich, selbst auf die Bühne zu treten und das Stück kurzerhand abzubrechen: "Ich ließ eine Platte auflegen, hatte ein Blutpolster unter dem Arm und eine Blutkapsel im Mund. Dann packte ich ein Spritzbesteck aus und haute mir das rein. Licht aus, und das Blut floss. Licht an, und ich zerbiss das Bierglas, ein präpariertes aus der Requisite. Plötzlich war es total still im Theater. Ich begann die Geschichte zu erzählen, dass meine Mutter am Totenbett ihrer Mutter saß, das Radio anmachte, und es lief: "Heilig, heilig, heilig" aus der Schubert-Messe. (†) Und in die Stille hinein kündigte ich die Motorrad-Nummer an. Plötzlich hatte ich die Aufführung in der Hand. Ich habe alle aufgefordert, sich auszuziehen, sich nackt zu zeigen, wie Gott uns geschaffen hat. Werft eure Ohrringe weg, seid nackt, nackt, nackt! Da rief das Publikum: Zieh dich doch selber aus, und ich tat es (..). Von diesem Abend an war klar, dass ich mit auf die Bühne gehe, dass es dadurch gelingt, dem Ganzen eine Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit zu geben. Endlich war das blöde Gekicher verstummt. Es begann die Sucht, die anderen Schauspieler in ihrem verabredeten Spiel zu stören. Mir war deutlich geworden, dass das Unvorhersehbare, die Lücke im Ablauf, mich am Theater interessiert."



Szenenfoto aus 100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen (Foto: Baltzer)



Zusätzliches Material zur 100 Jahre CDU

- Bilderstrecke 100 Jahre CDU - Fotogalerie zum Stück
- 100 Jahre CDU Radiokritik - Kritik von Radio Berlin als RealMedia Clip

100 Jahre CDU
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Regie: Christoph Schlingensief

Bühne: Rainer Stock; Kostüme: Tabea Braun/ Julia Koep; Dramaturgie: Matthias Lilienthal/Dirk Nawrocki

Mit: Hildegard Alex, Rosemarie Bärhold, Dieter Benedix, Irmgard von Berswordt-Wallrabe, Lothar Butszies, Alfred Edel, Heinz Freund, Thomas Göttemann Dietmar Huhn, Heide Kipp, Frank Koch, Miklos Königer, Wolfgang Lohse, Harry Merkel, Klaus Mertens, Claudia Münch, Achim von Paczensky, Marga Platow, Christoph Schlingensief, Walfriede Schmitt, Charlotte Siebenrock, Joachim Tomaschewsky, Karin Ugowski

Premiere: 23.4.1993





Zusatzmaterial

- Bilderstrecke