|
|
|
|
|
DEUTSCHLANDSUCHE '99 / 2. Internationaler Kameradschaftsabend, Tourneetheater
In der DEUTSCHLANDSUCHE '99 begibt sich Schlingensief auf eine Expedition durch das Zentrum und die Provinzen der Berliner Republik, auf der Suche nach einem neuen Siegfried, einem neuen deutschen Helden.
Die DEUTSCHLANDSUCHE `99 setzt sich aus vier Projekten zusammen. Die Theatertournee WAGNER LEBT – SEX IM RING führt Schlingensiefs Schauspieltruppe in zehn deutschsprachige Städte, unter ihnen Weimar, Stuttgart, Hamburg, Basel und Kassel.
Die Abendvorstellung im Bühnenbild eines Flüchtlingslagers wird ergänzt durch Straßenaktionen am Nachmittag der Aufführung. Schlingensiefs mittels schwarzrotgoldener Wimpel zur Staatskarosse umfunktionierter Privatwagen beschallt den jeweiligen Spielort über Lautsprecher mit Wagnermusik, um die verborgenen Helden aus ihren Verstecken zu locken – und um die Vorstellung anzukünden. Hier wie dort werden Wagnertexte rezitiert und mit Publikum bzw. Passanten Überlebensstrategien für das Deutschland des 21. Jahrhunderts entwickelt. "Sie sind die Darsteller und ich schaue zu." Das sagt Schlingensief zwar beiläufig, unter Gelächter. Nichts anderes aber läuft in den nächsten Stunden ab. Seine Mischung aus Seifenoper, Talkshow und Parteiveranstaltung steuert er perfekt. Er reagiert aufs Publikum, wechselt blitzschnell Stimmungen.
|
Start der Wagnerrallye 1999 und der Deutschlandsuche 1999 (DV-Still) |
Die Tournee findet ihren Höhepunkt im ERSTEN INTERNATIONALEN KAMERADSCHAFTSABEND am 3. Oktober im Hamburger Schauspielhaus. Er nimmt in kleinerem Rahmen und mit ähnlicher Besetzung den dritten Teil der DEUTSCHLANDSUCHE, den ZWEITEN INTERNATIONALEN KAMERADSCHAFTSABEND – WERKZEUGKASTEN DER GESCHICHTE am 22. November in der Berliner Volksbühne vorweg.
Zunächst jedoch reist Schlingensief im Kostüm eines orthodoxen Juden nach New York. Innerhalb der Aktion DEUTSCHLAND VERSENKEN am 9. November übergibt er dem Hudson River 99 während der Tournee gesammelte Alltagsgegenstände und fällt in einer feierlichen Zeremonie vor der Freiheitsstatue auf die Knie, um Deutschland der Globalisierung zu übergeben. Eine WAGNERRALLYE durch die namibianische Wüste beschließt die DEUTSCHLANDSUCHE `99. Die kolonialen Überreste des ehemaligen Deutsch-Südwestafrika werden ein letztes Mal mit Wagnermusik beschallt, der Nibelungenring nicht im Rhein versenkt, sondern in den Sand gesetzt.
|
Schlingensief beschallt in Namibia Robben mit Wagnermusik(Foto: Baltzer) |
Ein Resümee der DEUTSCHLANDSUCHE zieht die Frankfurter Rundschau: "Bei der Deutschlandsuche ist es ihm [Schlingensief] gelungen, über die Beliebigkeit und Parolenhaftigkeit hinaus der Aufführung ein dramaturgisches Gerüst zu geben. Er hält sich mit Moderationen zurück, was den Verdacht, hier inszeniere einer seine eigene Eitelkeit, diesmal kaum aufkommen lässt. Stattdessen entwirft er wieder einmal Bilder zu Ideen."
Am Beispiel des ZWEITEN INTERNATIONALEN KAMERADSCHAFTSABENDS und unter Bezugnahme auf den durch Einsetzung einer rechtkonservativen Regierung ausgelösten politischen Umbruch in Österreich präsentiert Schlingensief seine Inszenierung FREIHEIT FÜR ALLES – DRITTER INTERNATIONALER KAMERADSCHAFTSABEND (2ooo) am Schauspielhaus Graz. Spielszenen und Interviewausschnitte mit dem neuen Bundeskanzler Schüssel lässt Schlingensief die Publikumsaufforderung folgen, sich aktiv gegen den politischen Missstand im Land zur Wehr zu setzen.
|
"Deutschland Versenken" und "Boycott German Goods", New York 1999 |
DEUTSCHLAND VERSENKEN - Zweiter Teil der Deutschlandsuche am 9. November 1999
Die Fahndung nach dem prototypischen deutschen Helden hatte Schlingensief im Verlauf der DEUTSCHLANDSUCHE ´99 (1999) in die deutschen Provinzen geführt, "denn um dort zu Überleben, muss man ein Mann der Tat sein".
Im Zuge seiner Ausstellung im New Yorker P.S.1 Museum of Contemporary Arts unternimmt Schlingensief am geschichtsträchtigen 9. November 1999 eine Bootstour zur Freiheitsstatue, europäischen Einwanderern einst Symbol der Schönen Neuen Welt. Auf dem Weg über den Hudson River übergibt er 99 deutsche Souvenirs, während seiner Heldensuche gesammelt, dem Fluss in eine neue Zeit – die Zeit der Globalisierung.
Schlingensief: "Da gibt es unter anderem eine tote Maus, einen Bierkrug, eine benutzte Damenbinde, eine Eintrittskarte für den Besuch der Reichstagskuppel, das "Bitte nicht stören"-Türschild aus einem Hotel in Chemnitz, ein Bündel mit Zuschauerpost zur Deutschlandsuche und Stofftiere, die mir kreischende Girlies auf die Bühnen der Provinz geworfen haben."
All diese Dinge formen ein Bild des Deutschlands zur Jahrtausendwende, einen modernisierten Ring des Nibelungen aus Dingen des alltäglichen Lebens. "Ich nehme sie und übergebe sie zu Füssen der Freiheitsstatue den Fluten. So wie der Nibelungenring im Rhein versank, wird nun Deutschland versenkt."
DEUTSCHLAND VERSENKEN findet seinen Abschluss vor der Freiheitsstatue selbst. Im Kostüm eines orthodoxen Rabbiners kniet Schlingensief vor dem Denkmal eines letztlich anonymen Freiheitsbegriffs nieder, so wie dereinst Willy Brandt vor dem Warschauer Denkmal des Unbekannten Soldaten.
Deutschland ist übergeben, Deutschland hat sich übergeben...
SPIEGEL, November 1999:
"Zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wird wieder deutsche Geschichte geschrieben - in den USA. Als Deutschlands Kulturbotschafter war Christoph Schlingensief zur Ausstellung "Children of Berlin" nach New York gereist. Doch bei Anbruch des dritten Tages wechselte er das Amt und übergab Deutschland als Urnenbestatter den Wellen des Atlantik. "Es heißt Abschied nehmen", verkündete er an der Reling der Liberty Island Ferry mit Kurs auf die Freiheitsstatue, "hiermit versenke ich Deutschland".
Schlingensiefs orthodoxer Look mit Schläfenlocken und selbstgestricktem schwarz-rot-goldenem Schal flatterte traurig im Wind, als er die Messingurne mit den Überresten der wiedervereinten Nation zu den Klängen von Wagners "Ring der Nibelungen" über Bord warf. Bald war sie nur noch ein Punkt vor der gewaltigen Kulisse Manhattans. Die Grabbeigaben, 99 Fundstücke von Schlingensiefs Deutschlandreise, darunter ein gebrauchter Tampon und ein Bußgeldbescheid über 99 Mark, den Schlingensief für eine nicht angemeldete Demonstration gegen die FPÖ erhalten hatte, flogen unter den Argusaugen der Freiheitsstatue in einem grünen Hartschalenkoffer hinterher."
|
Der 2. Internationale Kameradschaftsabend in Berlin (Foto: Baltzer) |
Zusätzliches Material zur Deutschlandsuche '99
|
|
|
|
|
|