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Christoph Schlingensief - Ein Portrait
Der treueste Freund von Christoph Schlingensief war der Zynismusverdacht. Schon seine erste wilde Phase als Filmregisseur wurde von heftigen Reaktionen begleitet. Spielfilme wie "100 Jahre Adolf Hitler" (1988), "Das deutsche Kettensägenmassaker" (1990) oder "Terror 2000" (1992) verquickten das Geiseldrama von Gladbeck, Morde an Asylbewerbern, Taten von Neonazis oder die deutsche Wiedervereinigung mit Splatter- und Trash-Ästhetik, Obszönitäten und Hysterie. Das wurde von überernsten Intellektuellen wie von sensationsheischenden Medien oft gleichermaßen als Zumutung, unwürdig und zynisch empfunden und kommentiert. Berliner Autonome zerstörten 1993 sogar Kopien seines Films "Terror 2000" im Kreuzberger Sputnik-Kino mit Buttersäure, weil diese deutsche Politgroteske mit ihren lächerlich übertriebenen Gewalt- und Sexszenen "stumpfsinnig, rassistisch und sexistische Propaganda" sei.
Auch seine Hamburger Bahnhofsmission mit dem Deutschen Schauspielhaus "Passion Impossible" 1997, bei der er Junkies, Obdachlose, Prostituierte und andere ausgegrenzte Bewohner des Bahnhofsviertels für eine Woche in seine Mission in einer verlassenen Polizeiwache lud, wurde von diversen Schauspielern des Theaters abgelehnt, weil er die armen Menschen nur für seine Eitelkeit missbrauchen würde. Ähnliche Vorwürfe richteten sich gegen Schlingensiefs Zusammenarbeit mit behinderten Menschen an der Berliner Volksbühne, wo er seit 1993 Stücke, Projekte und Aktionen veranstaltet, auf seine Inszenierung von "Hamlet" mit angeblich ausgestiegenen Neonazis in Zürich, seine Opernregie für "Parsifal" bei den Wagnerfestspielen in Bayreuth 2004, und setzten sich fort bis zu seinem letzten Projekt: Remdoogo, das "Festspielhaus für Afrika", wie es seit Januar 2010 in Burkina Faso als Operndorf nach Schlingensiefs Vision vom Architekten Francis Kéré realisiert wird, empfinden viele Beobachter trotz (oder gerade wegen) der breiten Unterstützung von Politikern und Medien als kulturimperialistische Grille und egomanisches Missverständnis.
Vermutlich sind diese Meinungen die notwendige Begleiterscheinung von gelebter und oft provokanter Irritation, auf die Christoph Schlingensief wie wenige andere Künstler und Regisseure konsequent vertraut hat. Vor allem Auftritte der Selbstgenügsamkeit waren die Angriffsfläche seiner zornigen Aktionen, die in opulenten Kraftakten und hoher Taktfrequenz experimentelle Kunst mit Oper, Video und Performances, Sprechtheater und Subkultur, Vortrag und Talkshow verbanden. Die alltäglichen verlogenen Triumphbotschaften, die zahlreichen Masken der Zufriedenheit und der massenmediale Exhibitionismus reizten ihn zur Suche nach den dahinter verborgenen Schmerzen. Politische Inszenierung oder private Doppelmoral wurden dabei mit dem gleichen vorlauten Widerspruch behandelt: Egal ob Kohl, Schröder, Merkel oder das eigene Publikum, das beruhigte Gewissen und die allzu einfache Logik von Problem und Lösung waren für Schlingensief ein Zeichen mumifizierten Denkens und damit immer wieder Anlaß für drangsalierende Aufklärung mit dem Mittel der Unverschämtheit.
Erstaunlich angstfrei hat Schlingensief stets die Grenzen des Anstands, des guten Geschmacks sowie des gesicherten Terrains des Verständlichen überschritten. Aktionen wie das Big-Brother-Lager für Asylbewerber in Wien, die Verhaftung auf der Documenta 1997 wegen eines Schildes mit der Aufschrift "Tötet Helmut Kohl", die Beschimpfung der Wagner-Familie nach seiner Arbeit am Grünen Hügel in seinen folgenden Inszenierungen oder seine Parteigründung "Chance 2000" für die Bundestagswahl, die Demokratie als einen Zirkus des Scheiterns feierte, waren unerschrockene Tabubrüche, die nicht zuletzt durch die negativen Reaktionen ihre Wirkungsmacht entfalteten. Die Frage, Zynismus oder Moral, die sich bei etwas intensiverer Beschäftigung mit seinen politischen und menschlichen Anliegen doch schnell beantworten lässt, erzeugte trotzdem stets genug mediale Aufmerksamkeit, dass Christoph Schlingensief zuletzt eine nationale Kulturmarke wurde.
Obwohl er sich und seine subjektive Aggressivität immer mit ins Zentrum seiner Arbeiten gestellt hat, veränderte eine Krebsdiagnose Anfang 2008 die Betonung konkret ins Persönliche. In großer Offenheit und Angriffslust stellte er seither den Tod, seine Angst und die Relativkraft des Sterbens in den Mittelpunkt seiner Produktionen. Aufwändige Theaterperformances wie "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" (2008), "Mea Culpa" (2009) oder "Via Intolleranza II" (2010) waren komplexe Kompositionen, die Verzweiflung über das Sterbenmüssen wie Spott über das Unvermeidliche, Trauer und absurde Festlichkeit, die Fragen nach der Vergänglichkeit und nach möglichen spirituellen Antworten mit dem Willen zum Trotzdem verbanden – bei "Via Intolleranza II" unter Mitwirkung zahlreicher Künstler aus seinem "Sehnsuchtsort Afrika", genauer: aus Burkina Faso, dem Land seiner Operndorfvision.
Schlingensiefs scheinbar unbekümmertes Zutrauen, sich immer neue Genres zu erschließen, war im Resultat erstaunlich frei von Dilettantismus und Selbstüberschätzung. Denn als einziger deutscher Regisseur hat Christoph Schlingensief für sich eine universelle Kunstsprache entwickelt, die er sowohl auf Theater wie Oper, Literatur, Film, Installation, Performance, aber auch auf die mediale Selbstdarstellung anwenden konnte. Seine Website (www.schlingensief.com) ist sicherlich die umfangreichste und professionellste Plattform eines Einzelkünstlers in Deutschland, seine Fernseh-Auftritte, die er mit Frechheit, Poesie und Herzlichkeit meisterte, waren äußerst begehrt – und trotzdem entging Schlingensief auch als öffentliche Person der medialen Schablonierung.
Die große Integrität, mit der er als einer der größten Popstars der deutschen Kultur aufmerksam, politisch, widersprüchlich und dabei so nett blieb, machte seinen Ruhm wirklich verdient und die vielen Ehrungen, die er zuletzt erfuhr, korrumpierten seine Anliegen in keiner Weise. Zynisch an dieser ganzen Geschichte war nur die Krankheit, die ihm am 21. August 2010 das Leben kostete. Aber auch die war Teil seines lebenslangen Ringens um Aufrichtigkeit mit den Mitteln der Kunst.
Till Briegleb, Goethe Institut (August 2010)
Weiterführende Texte zu Christoph Schlingensief
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