|
|
|
|
|
Christoph Schlingensief – Regisseur
aus: Cinegraph Filmlexikon, bis 1989, mit Ergänzungen
Christoph Maria Schlingensief, geboren am 24. Oktober 1960 in Oberhausen, Sohn des Apothekers Hermann Josef Schlingensief und seiner Frau Anna Maria, geb. Knipp. 1967-71 Besuch der Volksschule; 1968 erster Besuch der Oberhausener Kurzfilmtage und erster Kurzfilm im Normal-8-Format (DER FAHNENSCHWENKERFILM), 1969 folgt die erste Arbeit auf Super8 (DIE SCHULKLASSE). 1971-80 Schüler des Heinrich-Heine-Gymnasiums; 1972 Gründung des Jugendfilmteams Oberhausen, das unter Schlingensiefs Leitung und wechselnder Firmierung (Club der Sieben, Altmarktclub, Amateur-Film-Company 2000) bis 1978 sieben Super8-Filme mit Spielhandlung produziert. Während WER TÖTET, KOMMT INS KITTCHEN (1972) kaum mehr als eine Keilerei wiedergibt, erzählen die folgenden Filme komplexe Criminalgeschichten. REX, DER UNBEKANNTE MÖRDER VON LONDON (1973) führt dabei in ein dubioses Soho; DAS TOTENHAUS DER LADY FLORENCE (1974) läuft in gekürzter Fassung im Jugendprogramm des WDR; DAS GEHEIMNIS DES GRAFEN KAUNITZ (1975) wird im Stadtkino Oberhausen uraufgeführt und mit 300 DM aus dem Fonds der Kurzfilmtage gefördert. MENSCH, MAMI, WIR DREH'N 'NEN FILM (1977), eine Satire über einen ambitionierten Hobby-Filmer, wird gleichfalls vom WDR gesendet. Daneben dreht Schlingensief 1973-75 vier dokumentarische Versuche für den Erdkunde- und Kunstunterricht (über ein Altenheim, die Weimarer Republik, über Wolken und über Wasser im Klostein). 1978 entsteht die letzte Gruppen-Produktion: PUNKT – "der war frühpubertierend" (Schlingensief).
Nach dem Abitur zwei vergebliche Bewerbungen an der Hochschule für Fernsehen und Film München, Mitarbeit an Produktionen essener Filmmacher. 1981 Umzug nach München, Studienbeginn im Fach Deutsche Philologie (5 Semester Philosophie und Kunstgeschichte). Im Herbst 1981 Kamera-Assistenz bei DOKTOR FAUSTUS (R: Franz Seitz): "Zwar lernte man dort eine Menge Wissenswertes über Technik und Organisation, doch nichts Genaues über Menschenführung, Mord und Totschlag." (Schlingensief, 1987). 1982 entstehen die experimentellen Kurzfilme FÜR ELISE und WIE WÜRDEN SIE ENTSCHEIDEN?. Schlingensief verfaßt Kurzgeschichten für das literarische Magazin Mode und Verzweiflung, ist Mitglied der Musikgruppe Vier Kaiserlein. Im Herbst 1982 gründet er die DEM-Film.
Ende 1982 Rückkehr nach Oberhausen. Beim Schnitt eines Industriefilms für den Kommunalverband Ruhrgebiet lernt er Werner Nekes kennen, an dessen Filmen er in wechselnden Funktionen mitarbeitet (NEKES, 1982; WAS GESCHAH WIRKLICH ZWISCHEN DEN BILDERN?, 1985; JOHNNY FLASH, 1986). Im gleichen Jahr beginnt er eine "Trilogie zur Filmkritik" unter dem Titel "Film als Neurose". Die beiden Kurzfilme PHANTASUS MUSS ANDERS WERDEN und WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG? werden während der Westdeutschen Kurzfilmtage 1983 in einer Gegenveranstaltung ("Freiheit für Christian S.") uraufgeführt. Ihr 3. Teil, TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA (1983/84), ist Schlingensiefs erster abendfüllender Spielfilm: "Ein Feuerwerk sinnloser Buntheit und raffiniert genialischer Momente, nie gesehener Bilder und täppischer Witze. Keine Geschichte, keine Botschaft, kein Sex, nur Film. (...) Film im Film und Geschrei, Überblendungen und Risse, Rasterbilder und allerlei Dunkelheiten, verfremdete Zitate aus allen Genres vom Horrorfilm bis zur Rockoper – mit sichtlichem Spaa am Erfinden, am Klecksen und Kleckern." (B. Erenz, Die Zeit, 7.12.1984).
Auch MENU TOTAL (1985/86), "wirklich der allerletzte und endgültige Film zur Vergangenheitsbewältigung", verzichtet auf eine konventionelle Handlung: "Schlingensief erledigt die deutsche Vergangenheit von Hitler bis zu seinen Bewältigern in einem Aufwasch. Da bleibt nichts mehr übrig, schon gar kein Argument. Etwas beeindruckend Rigides passiert hier, sprachlos fast, nur konzentriert auf dreckige, aufgerauhte, grobkörnig-kontrastreiche Schwarzweißbilder von kaum noch gewohnter Direktheit." (P. Buchka, Süddeutsche Zeitung, 1.8.1986). In dem philosophierenden Doktor Faustus-Traktat EGOMANIA – INSEL OHNE HOFFNUNG, im Winter 1986 auf Langenea gedreht, setzt Schlingensief, in dessen Filmen (neben Alfred Edel) bislang vor allem Darsteller aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis auftraten, mit Udo Kier und Tilda Swinton erstmals auch professionelle Schauspieler ein. "Es ist ein Überfall an Bildern und Tönen, schreienden Farbkompositionen und dann wieder pastellartig zart, kreischend und mit Orgelton, bestimmt von der genauen Wahrnehmung des Drehorts, einer Hallig in der Nordsee. Und vor allem von einer ungebrochenen und noch nicht korrumpierten Kraft der Phantasie, die endlich keine Mythen illustriert, sondern sie in ihren Bildern erkennt und zu erkennen gibt." (P. W. Jansen, Basler Zeitung, 8.12.1986).
Um Verbindlichkeiten abzutragen, arbeitet Schlingensief von Oktober 1986 bis März 1987 als Aufnahmeleiter der TV-Serie LINDENSTRASSE (R: Lutz Konermann), anschließend als Regie-Assistent. Sein folgender Film, MUTTERS MASKE (1987/88), ein im Ruhr-Adel angesiedeltes Familiendrama um Geld und Liebe, Macht und Tod, mit Anleihen bei Baudelaire ("Le mort joyeux") und Veit Harlans OPFERGANG (1943/44), orientiert sich eher als die vorangegangenen Arbeiten am Erzählkino – und an Soap Operas: "Wie da Allerweltsfiguren mit heiligem Ernst die zu Floskeln vertrockneten großen Gefühle deklamieren, ist schon ziemlich witzig und von Schlingensief mit angemessener Sorgfalt ins Bild gesetzt. (...) Der Avantgardist Schlingensief ist in Wirklichkeit der Erbe der Guldenburgs." (M. Althen, Süddeutsche Zeitung, 17.1.1989).
SCHAFE IN WALES (1988), Schlingensiefs erster Film nach einem fremden Drehbuch, entsteht im Auftrag der ZDF-Redaktion Das kleine Fernsehspiel. "Der Film weist unverkennbar seinen Stil auf, faszinierend in der dichten Stimmung, grotesk karikierend bei den Protagonisten – und die Dramaturgie schichtet bruchstückhaft ineinander verschobene Elemente auf." (C. E. Voester, Stuttgarter Nachrichten, 15.9.1988). Aufgrund von Differenzen mit der Produktion bricht Schlingensief die Arbeit am Schnitt nach drei Wochen ab, legt die Regie nieder und zieht seinen Namen vor der Ausstrahlung zurück. 100 JAHRE ADOLF HITLER (1988/89), sein 60minütiger Report über DIE LETZTE STUNDE IM FÜHRERBUNKER (Untertitel) löst bei Kritik und Publikum Kontroversen aus. Während er den einen als "eine politisch-ästhetische Panne ersten Ranges", als "völlig indiskutabler, pubertärer Radau-Klamauk" gilt (S. Feldmann, Rheinische Post, 3.5.1989), befinden andere ihn als gelungen: "Belehrung, Analyse, Aufklärung, all das leistet der Film nicht. Und doch funktioniert er auf merkwürdige Weise. Christoph Schlingensief, ein Nachgeborener, ein Naiver, ein Wilder, inszeniert einen Totentanz, so grell, so geschmacklos, so brutal, daa einem das anfängliche Lachen bald vergeht: Die Banalität des Bösen, hier wird sie zum Ereignis..." (W. Roth, epd Film, Nr. 8, 1989).
Schlingensief ist 1983-85 (zunächst mit Werner Nekes) Lehrbeauftragter für Filmgestaltung und Filmtechnik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, 1986 Lehrbeauftragter für Film an der Kunstakademie Düsseldorf. 1989 befinden sich die Projekte "Blanche – Schwester der Todesangst im Namen Jesu Christi", "Klossowski – Kinderaugen lügen nicht", "Perversione – Ich habe Dir nie eine Peitsche versprochen" und "Die Geschichte des Auges" (nach Bataille) in Stadien der Planung; der Film "Colonia Dignidad" wird vorbereitet. Die Drehbücher "Pretty Cat – Mögen Sie Katzen?", "Kille? Kille?" und "Ich – Ron Hank", über die kometenhafte Karriere des fiktiven mülheimer Entertainers und Hollywood-Regisseurs Rolf Hansen, sind bislang unrealisiert. Schlingensiefs Filme werden vom Filminstitut der Landeshauptstadt Düsseldorf archiviert.
Christoph Schlingensief, "der wildeste, engagierteste und attraktivste Filmregisseur Deutschlands" (Wiener, Nr. 4, 1989), lebt in Mülheim/Ruhr.
Auszeichnungen
1985 Nordrheinwestfälischer Produzentenpreis für TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA.
1986 Förderungspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.
1987 Förderpreis zum Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft der Stadt Mülheim/Ruhr.
Diskografie
1984 Vier Kaiserlein: "Einsam" auf "Wunder gibt es immer wieder" (What's so funny about-Records).
Literatur
Von Schlingensief:
— Manifest des deutschen Underground Films. In: Filmfaust, Nr. 54, September/Oktober 1986, S. 35.
— Die verbrecherische Lust, einen Film zu machen. In: Filmwärts, Nr. 7, Mai 1987, S. 4-7.
— Wie man Filme macht! In: Filmförderung in Selbstverwaltung. Die kulturelle Filmförderung des Landes
Nordrhein-Westfalen. Mülheim: Filmbüro NW 1988, S. 86-91.
— Wie man wieder ins Gleichgewicht kommt. Ein religiöser Beitrag. In: Werner Petermann, Ralph
Thomas (Hg.): Kino-Fronten. 20 Jahre '68 und das Kino. München: Trickster 1988, S. 150-168.
— Nichts Besonderes. In: Die Tageszeitung, Hamburg, 22.9.1989. (Leserbrief zu dem Artikel "Darf's noch
ein Tabubruch sein?" von Christa Thelen, 19.8.1989).
— D. Benman: Zeitgeist in Kisten. In: Ortszeit, Oberhausen, September 1983. (Interview).
— Eva M. J. Schmid: Tunguska. In: epd Film, Nr. 1, Januar 1985. (Zur "Film als Neurose"-Trilogie).
Weiterführende Texte zu Christoph Schlingensief
|
|
|
|
|
|