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"Klone eines Anstifters"
Christoph Schlingensief hat im Klink & Bank in Reykjavik seinen ersten "Animatographen" installiert. Nun ist auch die bildende Kunst ein Teil seines Gesamtorganismus
Von Markus Mittringer
Francesca von Habsburgs TBA-21-Foundation hat Christoph Schlingensief einen höchst bemerkenswerten Auftritt in Reykjavík ermöglicht.
Reykjavík – Christoph Schlingensief hat Island von unten gepackt, ist dort eingedrungen, wo sich das spröd attraktive Ödland fortdauernd vom Erdmittelpunkt aus selbst erneuert, kam aus jener baumlosen, stetig weiter auseinander driftenden Spalte, die Europa von Amerika scheidet. Er kam aus dem Ursprung. Er kam als Erneuerer. Und selbstverständlich hatte er alles im Reisegepäck, was einer braucht, um verstreute Lebensformen zum Gesellschaftsspiel "Gesamtorganismus" zu bewegen – sein Megafon, seinen Kampfanzug, seine jungbrunnengenährte Spitzbübischkeit, sein Sonderorgan, begeisterte Beteiligung anzustiften.
Und so fand er sich an den lavaschwarzen Ufern des Thingvellir-Sees wieder, ebendort, wo zum einen völlig angstlos eine bescheidene Kirche steht, und wo zum anderen die Isländer, ob der landesweit so regen, demnach architektursprengenden Beteiligung an den Sitzungen, den Wettern und Beben zum trotz, das Plein-Air-Parlament erfanden – eine annuale Veranstaltung, der eruptionsbedingt ebenso viele Parlamentarier erlagen, wie junge Isländer ihrem Rahmenprogramm entsprungen sind.
Und wer auch immer dort inmitten arktischer Saiblinge, göttlicher Ejakulationen, steinerner Trolle und allgegenwärtiger Elfen im Flechtenreich strandet, wird sich die Frage nach jener Relation stellen, die Mensch und Welt, die Natur und Kultur verbindet. Und mag sogleich die Edda mit den Schamanen vermengen, glückselig das Nibelungenlied pfeifen, in jedem Felsen einen grünen Hügel erkennen, und die Götter und Helden aus all den Allerweltssagen wiederfinden, die vom Glück in der blutigen Schale künden. Und der mag in Folge nach einem Gerät suchen, nach einer Maschine, das alles in eine offene Form zu bringen, nach einem Apparat unendlich großen Aufnahmevermögens, nach einem Werkzeug, das zugleich sichtet und graviert.
Dem Theatermann Christoph Schlingensief kam da der Filmproduzent Robert W. Paul in den Sinn. Letzterer wagte es 1896, das konventionelle Theater um Filmprojektionen zu erweitern, dem Bühnenbild also Beine zu machen. Paul taufte seine Technik zunächst "Theatrograph", empfand den Begriff aber rasch als zu rückwärts gewandt, und fand zu "Animatograph". Bewusst oder unbewusst hat Paul damit weniger ein Medium erweitert, als deren zwei zu einer größeren Form zusammengefügt.
Christoph Schlingensief will alle Medien. Sein Gral ist einen Maschine, die, einem Katalysator gleich, ihre späteren Maschinisten erst einmal zum Leben erweckt. Schlingensief, der Uranimatograf, hat sich ein Modell ausgedacht, mechanische Klone seiner selbst zu fabrizieren, Initialzünder, die Landminen gleich zu verstreuen sind, um das allerorts schlummernde Aufbegehren zu wecken.
In Reykjavík läuft nun sein erster Klon – befeuert von einer Crew, die, ganz gegen die lokalen Gepflogenheiten, Zeitgenossenschaft als Sache der Erbfolger des Zuwanderers Dieter Roth zu sehen, sich nicht aus den Statthaltern des verstorbenen Titanen zusammensetzt. Der Animatograph hat seine Wirkung getan, noch ehe er ordentlich in Betrieb gegangen ist.
Der Animatograph, den Christoph Schlingensief statt mit seiner angestammten Mannschaft mit einer vor Ort angeheuerten bauen musste, hat die Off- und Off-Off-Szene Reykjavíks mit genügend Selbstbewusstsein ausgestattet, jene Ansprüche einzufordern, Behauptungen aufzustellen und Qualität zu beanspruchen, wie es zuvor nur den offiziell Geladenen des Reykjavík Art Festivals zugedacht war.
Und dabei funktioniert so ein Animatograph recht simpel. Sein Herz bildet eine Drehbühne, die zu entern oder zu verlassen jedermann jederzeit möglich ist. Das Inventar on stage gleicht jenem im Zuschauerraum: Dinge des täglichen Bedarfs vom Klo übers Sofa bis hin zum Thai-Restaurant. Dazu kommen allerlei Gründe, Kreativität auszulassen: Leinwände, Zeichenblöcke, Pulte und andere Subbühnen, das zeitgemäße elektronische Equipment. Weder fehlt die Disco-Kugel noch der Fernsehschirm, es darf getrunken, gegessen und geraucht werden. Und: Die Projektion behandelt Bühne wie Zuschauerraum, Akteur wie Betrachter gleichwertig – sie holt alle ins Weltbild.
Oder, vom Blickwinkel der bildenden Kunst aus gesehen: Der Animatograph ist eine raumgreifende Gerümpelinstallation.
Dass sie auch dramaturgisch perfekt funktioniert, macht sie zur Ausnahmeerscheinung.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.5.2005)
Materialübersicht zu Schlingensiefs Animatographen
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Der Animatograph
- 1. Übersicht
- 2. Einleitung
- A new theatre of the world (Art & Co 2/08)
- 3. Theorie
- ANIMATOGRAPH IV
- ANIMATOGRAPH III
- ANIMATOGRAPH II
- ANIMATOGRAPH I
Bilderstrecken
- Animatograph-Galerie
- Island-Dreh-Galerie II
- Island-Dreh-Galerie I
Flugblätter
- Außerparl. Obsession
- Icelandic Party
- Icelandic Army
- Gene Database
Verwandte Projekte
- Der Animatograph Deutschland Edition
- Der Animatograph Afrika Edition
Externe Links
- T-B A21
- Hauser & Wirth
- Isländisches Nationaltheater Reykjavik
ANIMATOGRAPH ICELAND EDITION
"House of Obsession"
by Christoph Schlingensief
Klink & Bank, Reykjavik
13.-15.5.2005
Commissioned by Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
Idee / Regie: Christoph Schlingensief
Darsteller: Karin Witt, Klaus Beyer, Christoph Schlingensief, Jörg van der Horst, Arnar Jonsson, Björn Thors, Eigill Heidar, Anton Palsson, Gudrun Gisladottir, Lilja Gudrun Porvaldsdottir, Nina Dögg Filipusdottir, Olafur Eigilsson, Solveig Arnarsdottir, Unnur Stefansdottir
Extra-Darsteller "Preisverleihung in Pingvellir": Gudmundur Oddur Magnusson, Daniel Björnsson, Snorri Asmundsson, Sirra Sigurdardottir, Erling Klingenberg, Sigridur Björg Sigurdardottir, Omar Stefansson, Nina Magnusdottir, Unnar Audarson
Bühnenkonstruktion: Thekla von Mülheim, Tobias Buser
Bühnenaufbau: Tobias Buser, Daniel Björsson, Pall Banine, Pall Einarsson
Ausstattung: Harry Johansson
Sound: David Por Jonsson, Helgi Svavar Helgason
Einrichtungsassistenz: Lars Skjalbriea, Finnur Ragnarsson, Petur Hauksson, Gudmundur Hauksson
Licht: Björn Gudmundsson
Kostüm: Aino Laberenz
Kamera u. Schnitt: Kathrin Krottenthaler
Schnittassistenz: Kristian Zalinsky
Dramaturgie u. Internetredaktion: Jörg van der Horst
Beratung vor Ort: Henning Naß
Webdesign: Patrick Hilss
Produktionsleitung Deutschland: Anna Schulz, Holger Schulz
Produktionsleitg. Island: Nina Magnusdottir
Fotos: Aino Laberenz, Christoph Schlingensief, Jörg van der Horst
Besonderer Dank an: Tinna Gunnlaugsson, Lydur Sigurdsson, Margret Sigurdardottir, Askell Gunnlaugsson, Bjarni Ingolfsson, Asgeir Fridgeirsson, Claudia Kaloff, Hedi Pottag, Nathalia Stachon, Arno Waschk und Phillip Kummel
Mit freundlicher Unterstützung durch:
Galerie Hauser & Wirth, Zürich, Isländisches Nationaltheater, Reykjavik, Isländische Landesbank.
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