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"Am Anfang war Ginnungagap"
Jetzt ist er Isländer: Christoph Schlingensief und sein "Animatograph" zu Gast beim Reykjavik Arts Festival
von Stephan Hippold, Frankfurter Rundschau, 19.5.05
Es war eine eigentümliche Kolonne, die sich da durch die Lavalandschaft wälzte. Ein Tross von VW-Bussen samt einem Strauß, einer Präsidentin und einer zugehörigen Security-Mannschaft. Der Weg ging nach Pingvellir, dem heiligen Ort des Landes. Hier wurde in Zeiten, als die alten Geschichten noch taufrisch waren - das war im Jahre 930 - der Freistaat ausgerufen, und hier wurde in jüngeren Tagen, als viele die alten Geschichten nur mehr aus den Lesebüchern kannten - das war im Jahre 1944 - die Republik Island gegründet. Die logische erste Station also für Christoph Schlingensiefs Animatographen.
Schlingensief auf Island also; dort, wo die Welt des Feuers Muspelheim auf jene des Eises Niflheim trifft. So steht es zumindest in der Edda, der großen altisländischen Sagensammlung. Island, hatte Schlingensief schon am Telefon gesagt, interessiere ihn deswegen, weil hier die Erde noch so dünn sei. Und die Geister ganz einfach an die Oberfläche könnten.
Jetzt, zehn Tage später, sitzt man mit ihm im hübschen Cafe Roma in Reykjavik. Karin, die Präsidentin, die am Abend zuvor dem wirklichen Präsidenten Islands die Hand geschüttelt hat - nach einem Dinner, auf dem es halbe Schafsköpfe zum Essen gab - ist dabei, und auch Klaus, der begnadete Elvis-Interpret, heute im langen Ledermantel und braunem Wollkleid. Als sei er der Künstler Jonathan Meese. Beide waren sie mit in Pingvellir, als der Prototyp des Animatographen erstmals in den Boden gerammt wurde, was dem isländischen Kameramann gar nicht recht war. Schließlich ist Pingvellir der bedeutendste Ort des Landes - und Schlingensief kein Künstler, den man auf Island kennt.
Herr Schlingenseif, nehme ich an?
Schlingenseif oder Schlingensief, wie spricht man das aus, hatte einen die amerikanische Kollegin, die für eines der großen Blätter des Landes arbeitet, noch gefragt. Wie alle anderen auch war sie zu diesem Eröffnungswochenende des Reykjavik Arts Festival gekommen, um die drei großen Dieter-Roth-Ausstellungen zu sehen, und all jene erlauchten Namen, die Kuratorin Jessica Morgan von der Londoner Tate Modern und Roths Sohn Björn drum herum gruppiert hatten: Matthew Barney, John Bock, Ólafur Elíassion, Thomas Hirschhorn, Lawrence Weiner. Die amerikanische und europäische Künstler- und Kulturschickeria traf sich an diesem Wochenende nicht in Paris, Venedig oder New York.
Das Reykjavik Arts Festival hatte sich einem Remodeling unterzogen und wer etwas auf sich hielt, der hatte sich eine Einladung verschafft - entweder direkt beim Festival oder bei der Kunstmäzenin Francesca von Habsburg (sie betreibt die Wiener Kunstfoundation T-BA 21). Sie hatte Schlingensief ins Festival geholt, und so seinen Animatographen, sein neuestes Installations- und Performanceprojekt, in Bewegung versetzt. Auch wenn dieser sich am Abend der Premiere dann partout nicht drehen wollte. Odin, der Göttervater, hatte dem aufsässigen Künstler aus Oberhausen Einhalt geboten.
Davon wusste das nachmittägliche Grüppchen im Cafe Roma allerdings noch nichts. Gemeinsam war man in der Sauna gewesen, war jetzt ein bisschen müde und auch ein bisschen nervös. (...) Für den Herd brauche man noch ein Starkstromkabel, und wo, bitte sehr, solle das Gemüse geschnippelt werden? Ganz einfach sei es hier in Island nicht. Wie sollte es auch, in einem Land, in dem eine große Mehrheit an Elfen glaubt. Wie solle das alles bloß auf den nächsten Stationen des Projekts funktionieren?
Nach Berlin Neuhardenberg, wo der Animatograph Ende August gastieren wird, geht das Projekt im Herbst nach Namibia und nach einer Zwischenstation am Wiener Burgtheater voraussichtlich weiter nach Nepal. Dort soll die "aktionistische Fotoplatte", wie Schlingensief das Projekt nennt, auf einem Marktplatz aufgestellt werden. Jeder der will, kann sie betreten, jeder, der sie betritt, verändert sie.
Schlingensiefs Animatograph ist keine ganz einfach zu verstehende Apparatur. Profan könnte man Drehbühne zu ihm sagen, doch das wäre ein bisschen zu einfach gedacht. Eher ist der Animatograph ein Schlingensiefsches Kleinuniversum, in dem der Besucher für kurze Zeit zu Gast ist, ein "Seelenschreiber" wie der Künstler selbst sagt. Um Obsessionen geht es auf ihm und um die Ordnung der Welt. Vor allem aber um den Kampf zwischen beiden Prinzipien.
Der Schlüssel dazu liegt diesmal in Pingvellir. Erzählt Schlingensief im Cafe Roma davon, dann gibt es kein Halten und keine Pausen mehr. In Pingvellir wurde das älteste Nationalparlament der Welt gegründet, hier bekam der Menschheitswunsch nach Verwaltung seinen Ort zugewiesen. Und hier, 35 Kilometer östlich von Reykjavik, driften die eurasische und die amerikanische Kontinentalplatte jährlich um acht Millimeter auseinander. Natur trifft auf Ordnung, Chaos auf seine Verwaltung. Wenn es einen Ort gibt, an dem das Prinzip Schlingensief eine Heimat hat, an dem der Gral, den er in Bayreuth vergeblich gesucht hat, verborgen liegt, dann könnte es Pingvellir sein. Hier soll ein Ort unter Leitung eines Schamanen zum Gesamtkunstwerk werden. Das gilt es zu bedenken, bevor man am Abend der Inbetriebnahme des Animatographen beiwohnt.
Welt-Verkündigung mit Handicap
Tief hinab geht es in den Keller des Reykjaviker Klink&Bank-Kulturzentrums, in dem sich Schlingensief wie in einen Maulwurfsbau eingegraben hat. Der Weg zum Animatographen ist weit, bei Schlingensief ging er über Afrika und Jelineks Bambiland, über Wagners Gral und den einäugigen Odin. Für den Besucher ist die Reise kürzer, für ihn geht es erst mal durch ein Labyrinth von Straußenbildern und Hexenszenen, vorbei an einem Miniatur-Pingvellir und einem mit Edda-Blättern vollgekleisterten Gralsraum. Dann erst kriecht man in den eigentlichen Hauptraum der Installation, in dem Schlingensief bereits sein Megaphon geschultert hat und wie ein wild gewordener Strauß über die Bühne hüpft. Heute, am ersten offiziellen Abend will sich der Animatograph allerdings nicht drehen.
Der Motor der Bühne streikt. Normalerweise drehen auf ihm Toyota-Fahrzeuge in einem Autoschauraum ihre Runden, nicht Hunderte von kunstbesessen Isländern. Die Filme aus Pingvellir und Holmur, die Schlingensief in den vergangenen zwei Wochen gedreht hat, flimmern, er selbst ist angespannt, brüllt "Welt-Verkündigung" in sein Megaphon und davon, dass man am nächsten Tag unbedingt wiederkommen solle. Im Nebenraum, der Beuys-Roth-Akademie, singt Klaus seine schrägen deutschen Beatles Lieder, später wird Schlingensief eine Aktion starten und ein Hühnchen zersägen. Anschließend einen Tisch. Der Aktionist ist trotz allem an diesem Abend auf den Schamanen getroffen, der Gralssucher auf den Aktivisten. Schlingensief sei durch und durch ein isländischer Künstler, hatte einem die Kuratorin Jessica Morgan noch Stunden vorher gesagt, in Island seien die Künste nämlich nicht so streng voneinander getrennt. Darüber kann Schlingensief am nächsten Tag nur verständnisvoll schmunzeln.
(...) Hier versteht man auch die Kunst des Christoph Schlingensief sofort. Als er ein paar Tage zuvor die erste isländische Armee gründete, die sich für eine Radikalisierung des in Island bereits üblichen genetischen Fingerabdrucks einsetze, erschütterte kein Skandalgeschrei die Insel. Kunst hat hier weit mehr mit dem Leben zu tun als anderswo. Was er von Island mitnehme, sagt Christoph Schlingensief, sei das Wissen, dass die Erde aus dem Nichts entstehe. Am Anfang gab es nur Ginnungagap, die große Leere. Dann begegneten sich Feuer und Eis - ein Kampf von Schlingensiefschen Ausmaßen.
Am zweiten Abend setzte sich dann auch glücklicherweise die Drehbühne in Bewegung.
Materialübersicht zu Schlingensiefs Animatographen
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Der Animatograph
- 1. Übersicht
- 2. Einleitung
- A new theatre of the world (Art & Co 2/08)
- 3. Theorie
- ANIMATOGRAPH IV
- ANIMATOGRAPH III
- ANIMATOGRAPH II
- ANIMATOGRAPH I
Bilderstrecken
- Animatograph-Galerie
- Island-Dreh-Galerie II
- Island-Dreh-Galerie I
Flugblätter
- Außerparl. Obsession
- Icelandic Party
- Icelandic Army
- Gene Database
Verwandte Projekte
- Der Animatograph Deutschland Edition
- Der Animatograph Afrika Edition
Externe Links
- T-B A21
- Hauser & Wirth
- Isländisches Nationaltheater Reykjavik
ANIMATOGRAPH ICELAND EDITION
"House of Obsession"
by Christoph Schlingensief
Klink & Bank, Reykjavik
13.-15.5.2005
Commissioned by Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
Idee / Regie: Christoph Schlingensief
Darsteller: Karin Witt, Klaus Beyer, Christoph Schlingensief, Jörg van der Horst, Arnar Jonsson, Björn Thors, Eigill Heidar, Anton Palsson, Gudrun Gisladottir, Lilja Gudrun Porvaldsdottir, Nina Dögg Filipusdottir, Olafur Eigilsson, Solveig Arnarsdottir, Unnur Stefansdottir
Extra-Darsteller "Preisverleihung in Pingvellir": Gudmundur Oddur Magnusson, Daniel Björnsson, Snorri Asmundsson, Sirra Sigurdardottir, Erling Klingenberg, Sigridur Björg Sigurdardottir, Omar Stefansson, Nina Magnusdottir, Unnar Audarson
Bühnenkonstruktion: Thekla von Mülheim, Tobias Buser
Bühnenaufbau: Tobias Buser, Daniel Björsson, Pall Banine, Pall Einarsson
Ausstattung: Harry Johansson
Sound: David Por Jonsson, Helgi Svavar Helgason
Einrichtungsassistenz: Lars Skjalbriea, Finnur Ragnarsson, Petur Hauksson, Gudmundur Hauksson
Licht: Björn Gudmundsson
Kostüm: Aino Laberenz
Kamera u. Schnitt: Kathrin Krottenthaler
Schnittassistenz: Kristian Zalinsky
Dramaturgie u. Internetredaktion: Jörg van der Horst
Beratung vor Ort: Henning Naß
Webdesign: Patrick Hilss
Produktionsleitung Deutschland: Anna Schulz, Holger Schulz
Produktionsleitg. Island: Nina Magnusdottir
Fotos: Aino Laberenz, Christoph Schlingensief, Jörg van der Horst
Besonderer Dank an: Tinna Gunnlaugsson, Lydur Sigurdsson, Margret Sigurdardottir, Askell Gunnlaugsson, Bjarni Ingolfsson, Asgeir Fridgeirsson, Claudia Kaloff, Hedi Pottag, Nathalia Stachon, Arno Waschk und Phillip Kummel
Mit freundlicher Unterstützung durch:
Galerie Hauser & Wirth, Zürich, Isländisches Nationaltheater, Reykjavik, Isländische Landesbank.
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