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Der Animatograph - eine "Lebensmaschine" von Christoph Schlingensief - Teil 2
2. Heraus aus den Theatern!
"Die Möglichkeiten der bewegten Photographien sind bisher nicht im geringsten ausgenutzt."
Robert W. Paul
Am 25. März 1896 stellte Robert W. Paul im Londoner Alhambra Theatre seinen Animatographen vor, einen Projektions- apparat,
der er im Hinblick auf eigene Theatererfahrungen zunächst als Thea- trographen angekündigt hatte.
1891 hatte Paul eine Fabrik für elek- trische Instrumente eröffnet. Mit dem Fotografen Birt Acres begann er 1894, das Edisonsche
Kinetoskop nachzubauen. Erste Probefilme zeigten beide Anfang 1895. Im Jahr darauf ging Paul zum Projektionsverfahren über und
präsen- tierte am 20.Februar 1896 seinen Theatrographen. Eine öffentliche Vor- führung folgte am 19.März in der Egyptian Hall am
Londoner Piccadilly Circus. Der Künstler David Devant projizierte alles überlagernde
bewegliche Fotografien auf die Bühne des Theaters. Kurz darauf benannte Paul seine Apparatur in Animatograph um, weil ihm die Theaternotation
nicht zukunftsweisend genug erschien. Er legte Wert auf die vielseitige Verwendbarkeit des Animato- graphen. Sein Ziel war es nicht, das
alte Theater durch den neuen Film zu reformieren; sein Ziel war ein medienübergreifender Kulturapparat, der nicht nur die auf statische Bühne,
sondern aus den Scheinwelten heraus auf die tatsächliche Weltbühne projizierte.
3. Der Animatograph
"Der Animatograph ist kein künstliches Auge, keine Kamera, sondern ein menschliches Sehorgan. Es ist der Betrachter, wie er sich selbst sieht und dabei Spuren hinterläßt, so wie die Bilder auf unserer Netzhaut spuren hinterlassen."
Christoph Schlingensief
Der Animatograph vereint verschiedene Elemente der visuellen und performativen Kunst in einem neuen Format, einer drehbaren Raumkonstruktion, zugleich Bühnenelement, Aktions- und Projektionsfläche. In Anlehnung an Avantgardefilm und -theater und deren ästhetische Paradigmen formuliert die Konstruktion ein Aufbrechen des Projektionsfeldes in großformatige, multiple, simultan den ganzen Raum einbeziehende Projektionen. Die Notwendigkeit der Sprengung der ungerahmten Bildfläche (in diesem Fall der guckkastenähnlichen Bühne des Theaters) geht einher mit einem architektonischen Verständnis von Filmraum.
"Wie eine lebensgroße Fotoplatte bannt der Animatograph nicht nur die Materialien des jeweiligen Ortes, sondern auch seine Belichtung, die akustische und energetische Aufladung durch seine Menschen."
Christoph Schlingensief
Der Animatograph besteht aus mehreren Elementen. Sein Fundament bildet eine theatrale Drehbühne, die in räumliche Segmente
unterteilt ist, welche als Pro- jektionsflächen für Schlingensiefs film- ische Arbeiten und Aktionen dienen. Jeder einzelne
Abschnitt funktioniert als unab- hängige Zelle, ist eine Installation in sich, die Filmsequenzen als Endlosschleife präsentiert.
Jedes Element verwandelt sich vor dem Auge des Betrachters, der sich im Zentrum des Geschehens befindet. Der Animatograph
bietet nicht allein Einblick in eine bewegliche und über- blendende, d.h. lebendige Installation. Vielmehr bietet er Einlaß in eine begeh- und bespielbare Einrichtung, die somit selbst zum Leben erweckt wird.
Der Mensch ist das Organ, das den Raumkörper, die "Lebensmaschine" aktiviert. Sein Auge ist die Kamera, das die Welt aufnimmt. Der Animatograph wird nicht nur sichtbar, er wird einsehbar. Es gilt, ihn seinerseits zu animieren und zu erforschen, ihn als offene, als buchstäbliche "Bühne des Lebens" wahrzunehmen.
Schlingensiefs Raumkonzept stellt die Prinzipien von White Cube und Black Box, die in der zeitgenössischen Kunst allgegenwärtig sind, radikal in Frage. "Kaum ein Museum oder eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst kam in letzter Zeit ohne abgedunkelte Räume aus", konstatiert Chris Dercon. "Machen sie nicht den Eindruck modernistischer Greenberg´scher, formalistischer, weißer Kuben? (…) Der einzige Unterschied ist, daß der weiße Kubus nun schwarz gestrichen ist." Nicht weniger künstlich als der White Cube des Museums ist die Black Box des Kinos. Ebenso wie bei der "gleichmäßig erleuchteten Zelle" ist Abgeschlossenheit ihre maßgeblichste Eigenschaft. Der Animatograph, die "Lebensmaschine" von Christoph Schlingensief, will diese Verschlußsache öffnen.
Der Animatograph, der sich drehende Raum, potenziert seine interne Beweglichkeit durch seine externe Mobilität. Dementsprechend sind seitens Christoph Schlingensief bereits Vorgespräche geführt worden, die das Projekt u.a. zu Filmaufnahmen nach Island, nach Namibia, in die USA und nach Zentralasien führen sollen. Genauso sind Vorführungen und Weiterentwicklungen des Animatographen am Burgtheater Wien, dem Isländischen Nationaltheater Reykjavik, der Berliner Volksbühne, dem Kunstfest Weimar u.a. angedacht. Darüber hinaus haben beispielsweise die Kunsthalle Wien und ein amerikanisches Museum Interesse an entsprechenden Ausstellungen des Animatographen bekundet.
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Animatograph, Skizze um 1900 (links); Der Animatograph, erste Installationsskizze, 2004 (rechts) |
Auf der Drehbühne wird eine sich stetig verändernde Raum- und Lebenswelt installiert, die sich durch inhaltliche Neukonstruktionen, durch Projektionen und nicht zuletzt durch ihre Begehbarkeit ständig wandelt und weiterent- wickelt, ohne ein Endziel anzuvisieren. Statt dessen geht es um Zwischen- zeiten, unsere Zwischenzeit, den Augenblick. Es geht um die eigene kleine Erfahrung im großen und seinerseits unendlichen Kosmos des Ganzen.
Hier (im modernen Mythos) wie dort (klassische Mythen) steht der Mensch und seine Beziehung zu Natur und zu Wesen wie Göttern oder Kulturerben (Helden) im Mittelpunkt. Glaubensvorstellungen und Wissensbestände einer Gemeinschaft sollen ebenso aufgespürt und projiziert werden wie Veranker- ungen des einzelnen Menschen in der Welt.
Zur Basisausrüstung auf der Suche nach dem modernen Mythos gehören konkrete Versatzstücke aus der nordischen, genauer altisländischen Sagenwelt (die "Edda"), der germanischen Mythologie und den afrikanischen (Natur-)Religionen. Die "Edda" beinhaltet Visionen ("Weissagung der Seherin"), in denen der Mensch sich mit höheren Mächten, Göttern und Helden konfrontiert findet, Visionen, die für den Animatographen filmisch umgesetzt werden sollen.
Die germanische Mythologie thematisiert explizit die Suche nach weltlicher und himmlischer Glückseligkeit, wie sie z.B. im Nibelungenlied und der Gralslegende zum Ausdruck gebracht wird, eine Suche, die Schlingensief in seiner Auseinandersetzung mit Wagner-Stoffen bereits begonnen hat und im Animatographen weiter intensivieren will.
Im afrikanischen, auch im zentralasiatischen Schamanismus spielen Götter- glauben und Selbsterfahrung wichtige Rollen als soziales Regulierungssystem für die Gemeinschaft. Von der rituellen Einbindung historischer Ereignisse durch ihre symbolische Umdeutung erhoffen sich diese Kulturen Einsicht und Kraft für das gegenwärtige Überleben und die gemeinsame Zukunftssicherung. Über die ur-europäischen Kulturzeugnisse spannt Der Animatograph einen Bogen zur Welt der afrikanischen Schamanen und der lebendigen Tradition asiatischer Glaubensrituale, um sie mit den Mitteln der Kunst (und mit der Kunst selbst) ins Hier und Jetzt zu transformieren. Archaische Urbilder, die Der Animatograph auf unsere Zeit projiziert.
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Materialübersicht zu Schlingensiefs Animatographen
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Der Animatograph
- 1. Übersicht
- 2. Einleitung
- A new theatre of the world (Art & Co 2/08)
- 3. Theorie
- ANIMATOGRAPH IV
- ANIMATOGRAPH III
- ANIMATOGRAPH II
- ANIMATOGRAPH I
Bilderstrecken
- Animatograph-Galerie
- Island-Dreh-Galerie II
- Island-Dreh-Galerie I
Flugblätter
- Außerparl. Obsession
- Icelandic Party
- Icelandic Army
- Gene Database
Verwandte Projekte
- Der Animatograph Deutschland Edition
- Der Animatograph Afrika Edition
Externe Links
- T-B A21
- Hauser & Wirth
- Isländisches Nationaltheater Reykjavik
ANIMATOGRAPH ICELAND EDITION
"House of Obsession"
by Christoph Schlingensief
Klink & Bank, Reykjavik
13.-15.5.2005
Commissioned by Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
Idee / Regie: Christoph Schlingensief
Darsteller: Karin Witt, Klaus Beyer, Christoph Schlingensief, Jörg van der Horst, Arnar Jonsson, Björn Thors, Eigill Heidar, Anton Palsson, Gudrun Gisladottir, Lilja Gudrun Porvaldsdottir, Nina Dögg Filipusdottir, Olafur Eigilsson, Solveig Arnarsdottir, Unnur Stefansdottir
Extra-Darsteller "Preisverleihung in Pingvellir": Gudmundur Oddur Magnusson, Daniel Björnsson, Snorri Asmundsson, Sirra Sigurdardottir, Erling Klingenberg, Sigridur Björg Sigurdardottir, Omar Stefansson, Nina Magnusdottir, Unnar Audarson
Bühnenkonstruktion: Thekla von Mülheim, Tobias Buser
Bühnenaufbau: Tobias Buser, Daniel Björsson, Pall Banine, Pall Einarsson
Ausstattung: Harry Johansson
Sound: David Por Jonsson, Helgi Svavar Helgason
Einrichtungsassistenz: Lars Skjalbriea, Finnur Ragnarsson, Petur Hauksson, Gudmundur Hauksson
Licht: Björn Gudmundsson
Kostüm: Aino Laberenz
Kamera u. Schnitt: Kathrin Krottenthaler
Schnittassistenz: Kristian Zalinsky
Dramaturgie u. Internetredaktion: Jörg van der Horst
Beratung vor Ort: Henning Naß
Webdesign: Patrick Hilss
Produktionsleitung Deutschland: Anna Schulz, Holger Schulz
Produktionsleitg. Island: Nina Magnusdottir
Fotos: Aino Laberenz, Christoph Schlingensief, Jörg van der Horst
Besonderer Dank an: Tinna Gunnlaugsson, Lydur Sigurdsson, Margret Sigurdardottir, Askell Gunnlaugsson, Bjarni Ingolfsson, Asgeir Fridgeirsson, Claudia Kaloff, Hedi Pottag, Nathalia Stachon, Arno Waschk und Phillip Kummel
Mit freundlicher Unterstützung durch:
Galerie Hauser & Wirth, Zürich, Isländisches Nationaltheater, Reykjavik, Isländische Landesbank.
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