English Deutsch Argentina
Brasil Chinese Latvijas
Foto: Patrick Hilss
Operndorf Afrika (Remdoogo)
Oper
Installation
Theater
Film
Aktion
Hörspiel
Fernsehen
Kolumnen
Atta-Kunst
Bambiland - nach Elfriede Jelinek


Nur ein halbes Jahr nach der Uraufführung von Elfriede Jelineks "Werk" im Akademietheater folgt, diesmal im Burgtheater, die Uraufführung eines weiteren Stücks von Elfriede Jelinek: "Bambiland". Das Bambiland ist ein mittlerweile die Welt umspannendes Entertainment-Disneyland, das mit dem Irakkrieg dank medialer Vermittlung eine neue Dimension und auch einen neuen Namen bekommen hat: "Wartainment". Jeder durfte mitspielen. Jeder wurde bei diesem Krieg zum Mitspieler, ob er wollte oder nicht. Es inszeniert der Aktionskünstler, Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief, den sich die Autorin ausdrücklich als Regisseur für "Bambiland" gewünscht hat.


DIE PERSER leben! ...in BAMBILAND.

Im ältesten Drama unserer Kultur - UNSERER KULTUR ! - feiert Aischylos den grandiosen, weil vernichtenden Sieg der Hellenen über die Perser bei Salamis, einen Sieg, an dem er selbst als Kämpfer teilgenommen hat. Indem er den Schauplatz der Handlung, des Krieges, auf die Seite des geschlagenen Feindes verlegt, warnt er seine siegestrunkenen Landsleute vor den Fehlern des Gegners, vor Größenwahn und Allmachtsphantasien. Ebenso macht es Aischylos zum Urmodell des Embedded Journalist. Nicht nur der Form nach ist sein Stück eine Tragödie. Es ist die Tragödie eines Krieges, aller Kriege, und die Tragödie der Kriegsberichterstattung.

Durch BAMBILAND verläuft die "Achse der Willigen", durch BAMBILAND laufen US-Truppen. BAMBILAND ist Hollywood. In BAMBILAND feiert Elfriede Jelinek den grandiosen, weil vernichtenden Irak-Krieg-Sieg von... von wem eigentlich? Sie zitiert Aischylos' PERSER und dreht die "Achse" polemisch um: BAMBILAND berichtetvom Krieg nicht aus der Sicht der Opfer - welcher Opfer? - , sondern aus der Kamera-Perspektive der mitkriegenden Beobachter und der Beobachter der Beobachter - uns. Wie gerne rühmen sich Erstere der Ausgewogenheit ihrer Berichterstattung, wie gerne geloben wir, bei aller Überlegenheit der westlichen Welt nicht die Loser zu vergessen. Aber eigentlich ist es einfach nur schön, dem Krieg zu lauschen und so ganz nebenbei auch noch den Sieg einzufahren - vom Sozius am Panzer aus, vom Fernsehsofaaus. Mitten in die verschwommenen Nachtaufnahmen vom Bombardement Bagdads hinein schalten CNN & Co.KG das Licht an. Wir stehen mittendrin, sind endlich auch selbst "eingebettet", sind alles überblickende Mitspieler: WILLKOMMEN IN BAMBILAND!



Szenenfoto mit Schlingensief aus "Bambiland" (Wien, 2003)



Wir buchstabieren T o m a h a w k - C r u i s e

M i s s i l e im Schlaf und verbuchen kurz vor dem Abendbrot noch schnell ein paar Kollateralschäden. Vom Dach des Hotels Palestine sind es nur wenige Meter bis in die Tiefgarage der Medienkultur.Das RTL-Modell der antiken Kriegsbotin wünscht sich schusssichere Westen in Trendfarben, die CBS-Variante wiederholt den Live-Bericht, weil der Bombeneinschlag nicht im Bild war. Das ist unprofessionell ! Das ist kein Krieg, wie wir ihn uns vorstellen, wie er uns vorgestellt wird ! Nach den Zinnsoldaten jetzt die Zinnreporter. Kriegsstrategien und Waffengattungen werden angepriesen wie Gaben für den Weihnachtstisch (in diesem Kriegsjahr sind handgewebte Bombenteppiche groß im Kommen !).Luftangriffe werden medial nicht mehr nachbereitet, sie werden angekündigt wie Fußball-Länderspiele. Blut, Schweiß und Tränen im Home-Shopping-Format: Krieg ist Ware, Krieg macht Spaß... Dass er tatsächlich stattfindet, wird dabei zur Nebensache. Er wird zum Kriegs-Nebenschauplatz, nicht mehr und nicht minder als Gottes Kanzel auf Erden, genauso wie die moralische Anstalt Theater, die geschlossene Anstalt Fernsehen, die Fernsehfamilie Schlingensief.

Die Wirklichkeit, nicht nur die derMedien, sieht so aus: Es gibt keine Orte des Geschehens mehr, sondern nur noch Orte des möglichen Geschehens. Mit dem Begriff der Authentizität schleicht sich Wahrheit auf die Bühne - die Bühne Bagdad, die Bühne Parlament, die Bühne Alltag. Alles ist Kunst, weil Überleben längst eine Kunst ist. Kein Unterschied mehr zwischen virtuell besetzten Schützen- und virtuos bespielten Orchestergräben; kein Unterschied mehr zwischen einer Panzerfaust und einem Kamerastativ, keiner mehr zwischen Götter- und Götzendämmerung.

Wir begreifen uns als Sieger und sind gerade deshalb die Verlierer. Den abgetrennten Gliedmaßen des gemeinen Irakers schmeißen wir gesunden Menschenverstand hinterher. Ein klein bisschen Lüge für den großen Endsieg. Krieg ist immer pubertär. Kein Kind spielt mit Kofi-Annan-Püppchen "Friedensverhandlung", auch nicht das größte, nicht einmal Kofi Annan. "Wollt Ihr den totalen Krieg?" Wer kann da schon Nein sagen? Alle wollen Krieg, denn Krieg simuliert Veränderung, Krieg schafft Macht - ein infantiler Trieb. Krieg und Trieb haben nie Verstand, deshalb brauchen sie niemals Grund, niemals Anlass. Sie brauchen Gräben, um Anlässe und Leichen, Minen und Wahrheit darin zu verscharren. Wir nehmen alles hin ! Wir wollen mal wieder so richtig aktuell unterhalten werden! Brandaktuell!

Dass wir alle bereit sind, Krieg zu einem Unterhaltungs-, zu einem Industrie- und Hotelkomplex zu machen, in den man eincheckt, ist Elfriede Jelineks, ist Christoph Schlingensiefs Thema, ebenso wie die Fahrlässigkeit der Sprache als technisch raffinierteste aller Waffen. Die so richtige wie doch vergebliche Warnung des Aischylos schafft bei beiden einen Moment, der schon längst kein retardierender mehr ist. Sie zeigen den vermeintlichen Sieger als Verlierer, die Götter als verzogen, den Tyrannen als verlogen, den Kriegsheimkehrer als heimat-, den Daheimgebliebenen als orientierungslos. Bis zum nächsten Krieg!

Nach der Uraufführung von Elfriede Jelineks "Werk" durch Nicolas Stemann in der vergangenen Spielzeit inszeniert Christoph Schlingensief am Burgtheater die Uraufführung von BAMBILAND. Jelinek, die im Rahmen von CHANCE2OOO (Deutschland, 1998) und AUSLÄNDER RAUS! - BITTE LIEBT ÖSTERREICH (Wiener Festwochen, 2000) bereits an Schlingensief-Projekten teilnahm, hat sich den gebürtigen Oberhausener geradezu gewünscht, wohl wissend, dass ihre an den Regisseur gerichtete Aufforderung: "Machen Sie damit, was Sie wollen!" bei Schlingensief nicht auf taube Ohren stoßen dürfte. "Theater darf Krieg nicht nur wie sonst immer altklug nacherzählen", so Schlingensief, "Theater muss selbst Krieg sein."

Elfriede Jelineks BAMBILAND nach Schlingensief ist die Forterzählung der Inszenierung ATTA ATTA, die im Jänner dieses Jahres an der Berliner Volksbühne Premiere feierte. Ebenso ist BAMBILAND vorübergehendes Mittelschiff der am 20. März gegründeten CHURCH OF FEAR (Kirche der Angst). Das Bekenntnis zur eigenen Angst als Kraftpotential("Habt Angst !") ist eine zentrale Ansage der COF, einer Gemeinschaft von Terrorgeschädigten, die sich auf der diesjährigen Biennale di Venezia erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentierte und über Frankfurt/Main und Wien im nächsten Jahr nach Zürich, Paris und New York weiterziehen wird.


In Österreich ist Christoph Schlingensief vor allem durch seine CHANCE2OOO-Wahlkampfaktion am Wolfgangsee (August 1998) bekannt geworden, innerhalb derer er sechs Millionen Arbeitslosezum Schwimmen einlud, um das Urlaubsdomizil des Bundeskanzlers Kohl durch eine "Minderheit, die längst schon Mehrheit ist" (Schlingensief) unter Wasser zu setzen; mit AUSLÄNDER RAUS! nahm Schlingensief 2000 den Subtext Haider'scher Wahlpropaganda auf, brachte die Wiener, Piefkes und andere Touristen zunächst gegen sich, dann gegen sich selbst auf. Sein Containerdorf vor der Staatsoper, in dem sich 12 Asylbewerber zur Abwahl resp. Abschiebung durch die österreichische Bevölkerung stellten, war dieeigentliche Sehens(un-)würdigkeit des Sommers.

Nach BAMBILAND am Burgtheater Wien pilgern Schlingensief und CHURCH OF FEAR im Jänner weiter ans Schauspielhaus Zürich. Im Sommer 2004 wird er in Bayreuth Wagners PARSIFAL inszenieren.



Horst Gelonneck in "Bambiland" (Foto: Hilss)



Pressestimmen zu Bambiland


FAZ: "Auf die Straße mit dem Kerl! Und kein Regiehonorar mehr!"

SZ: "Die Infrastruktur der Burg erlaubt es Schlingensief, die Konvergenz seiner Ausdrucksmittel – Film, Performance, Musik – so weit zu veredeln, dass man der Brillanz der halluzinogenen Bildwelten den Beifall nicht verweigern kann. (...) eine rituelle Reinigung."

Der Standard: "Ein rituelles Orgien- und Hysterientheater, das Schlingensief spätestens seit der Aktion Atta Atta an der Volksbühne kreiert. In Wien jedenfalls projiziert Schlingensief diese(n) Film(e) mit einer Wucht, als wäre das Burgtheater das ultimative Multiplexkino der westlichen Bühnenwelt."

TAZ: "Bambiland" ist in sich geschlossen; eine vielschichtige Oper, wahnwitzig, triumphierend und hemmungslos überzogen. Kein Skandal. Aber mehr zu kauen, als man an einem Abend verdauen kann."

FR: "(...) eine tolle und rüde dramaturgische Rallye durch das wuchernde Bilderarsenal des Christoph Schlingensief, einer nach außen gekehrten Identitätsbefragung, die gleichzeitig eine Befragung des Theaters mit den Mitteln des Films ist, und umgekehrt. (...) Film-Abspann und Aus. Keine Verneigungen. Wien war sichtlich verstört."

Tagesanzeiger, Zürich: "Weiter kann man nicht gehen!"



Schlingensief in "Bambiland" (Foto: Hilss)



Zusätzliches Material zu Bambiland

- Bambiland Pressestimmen - Ausführliche Berichterstattung zum Stück
- Bilderstrecke zu Bambiland - Fotos von Baltzer, Hilss und Soulek
- Krieg und Frieden - Teil des 2. Attaistischen Films zum Stück
- Politik und Verbrechen II - Das erste Buch zur attaistischen Kunst
- Elfriede Jelinek - Homepage von Elfriede Jelinek
- Bambiland, deutsche Fassung - Der Text von Elfriede Jelinek (PDF)
- Bambiland, englische Fassung - Englische Übersetzung, (PDF)
- www.atta-atta.org - Homepage zur ersten Attaistischen Ausstellung

Bambiland
Von Elfriede Jelinek
Burgtheater Wien

Regie: Christoph Schlingensief

Künstl. Mitarbeit: Jörg van der Horst; Bühne: Mascha Deneke; Kostüme: Sabine Fleck; Video: Meika Dresenkamp; Licht: Voxi Bärenklau; Musik: Max Knoth

Mit: Margit Carstensen, Ulli Fessl, Ilse Garzaner, Kerstin Grassmann, Dorothee Hartinger, Brigitte Kausch, Aysegül Yüksel, Sam Brisbe, Kurt Garzaner, Mario Garzaner, Horst Gelonneck, Michael Gempart, Roland Kenda, Dietrich Kuhlbrodt, Hermann Scheidleder, Christoph Schlingensief, Rene Thaler

Premiere: 12.12.2003





Nobelpreis 2004





Zusatzmaterial

- Bilderstrecke
- Krieg & Frieden
- Bambiland-Text
   (deutsch, PDF)

- Bambiland-Text
   (englisch, PDF)



Publikationen

- Ausbruch der Kunst


Externe Links

- www.atta-atta.org
- Elfriede Jelinek



Verwandte Projekte

- Atta Atta
- Attabambi-Pornoland