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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2000, Nr. 228, S. BS8 |
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Intensivstation
18. Durfte auf Anraten der Ärzte zum Tyrannenmord nach Syracus. Schwester Carmen hat mich
begleitet. Das Ganze finanziert angeblich der Spiegel, der auf Bitten von Henryk M. Broder
zur Rettung des deutschen Theaters aufgerufen hat. Zum einen geht es da um die
Resozialisierung von Peymann, der jetzt auf ausländische Wegelagerer setzt, weil das bei
Zahnärzten besonders gut ankommt. Zum anderen will man den Flop der letzten
Berlin-Spielzeit mit allen Mitteln glattbügeln, um spätestens zur nächsten Spielzeit
wieder zuzuschlagen.
Die Tempelreste und Amphitheater warten schon seit langem auf ein Remake. Es empfiehlt
sich, die Besichtigung bei den Katakomben des Hl. Johannes zu beginnen, auch
Kritikerlounge genannt; liebster Freund des Direktors, Eintäufer aller Nichtschwimmer und
Vorbild für viele Zwangsheterosexuelle, die Homosexualität zwar verachten, aber durchaus
verstehen können. Auch ich kann alles gut verstehen. Carmen spricht davon, daß viele
Leute in meinem Alter ein Plattformproblem haben. Dem einen reicht dann ein Krankenbett,
in meinem Fall würde ein Amphitheater nicht ausreichen. Ich bräuchte ein deutsches
Theater. Möglichst in Berlin. Das wäre die einzige Möglichkeit, dem Theater noch treu
zu bleiben. Ansonsten spiele ich mit dem Gedanken, nach Sizilien zu ziehen. Im Gegensatz
zu einem guten Amphitheater hat ein deutsches nur vom Mythos des Verwalters gelebt und nie
vom Blut der Besucher oder Spieler. Das ist der große Unterschied. Darf also allen
Patienten mal empfehlen, nach Syracus zu reisen. Wenn Sie von der
Eintrittskartenverkaufsstelle zurückgehen, kommen Sie direkt zum größten griechischen
Theater der Magna Graecia; es ist teilweise in den Felsen gehauen, in neun
Vertikalsektoren unterteilt und wird in horizontaler Richtung von einem das ganze Theater
durchlaufenden Gang (Diazoma) geteilt. Das waren die Fluchtkanäle, die man öffnen und
schließen konnte. Je nach Dramaturgie. Der Betrachter war mitgefangen. Was das Stück
hergab, war entscheidend dafür, ob man den Abend anschließend im Lokal oder in einem
Erdloch beendete. Und trotzdem war die Bude voll, und mein Zustand scheint sich zu
bessern. Schwester Carmen und ich haben jetzt ein Zimmer zusammen. Und auch die Wände im
Zimmer schmecken nach Blut. Ein schöner Anblick für all die Touristen, die uns hier beim
Heilungsprozeß zusehen.
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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