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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.05.2000, Nr. 114, S. BS3 |
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Intensivstation
1. Das Faszinierende an Zeitungsschreibern ist die Fähigkeit, den eigenen Reizlevel so
weit im Griff zu haben, dass selbst kleinste und unwichtigste Meldungen noch zur Erregung
führen und somit zu unzähligen Zeilen. Hast du Lepra, bekommst du die Titelseite, bist
du geheilt, genügen drei Zeilen. Damit es mir in dieser Rubrik nicht ähnlich geht, will
ich den Versuch unternehmen, das Äußere außen zu lassen und mich lieber auf innere
Phänomene zu konzentrieren. In Fachmagazinen nennt man das Tipps und Tricks. Tipps, um zu
gewinnen, und Tricks, um zu überleben. Genießen Sie also mit mir in den kommenden 52
Wochen eine Reise in die eigenen Reize, die natürlich von außen stimuliert werden, aber
nicht mehr so tun, als stände das Reizende nur vor einem und wäre keine Gefahr. Nein,
das Reizende steht vor uns und wird ab sofort berührt, betatscht und befingert (eklige
Worte), wir reiben uns praktisch am Reizenden, und sehen Sie da, schon jetzt haben wir das
Reizende als Überlebenspartner zurückerobert.
Natürlich geht das nur einmal pro Woche und nicht so oft wie bei anderen Schreibern,
jeden Tag, teilweise unter falschem Namen und in mehreren Magazinen gleichzeitig. Das sind
Abzocker, Reizversager oder wie in Handwerksmagazinen bezeichnet: Krummnägel. Sie sind
nicht in die Wand zu bekommen, sie haben kein Interesse, zu helfen, Bilder an sich
aufhängen zu lassen. Sie sind einfach nur Nagel, und das auch noch krumm. Müll? Kaum zu
sagen, jedenfalls liege ich gerade auf der kardiologischen Intensivstation
im Virchow-Krankenhaus und treffe auf zahlreiche Patienten, die ohne Herz leben müssen.
Ihr Herz ist eine Maschine, und es brummt, hat bis zu drei Ersatzakkus und pumpt das Blut
durch die Adern. Dazu sitzen wir in der Kommunikationsecke und hören
Verkehrsfunknachrichten. Ab drei Toten zünden sich einige eine Zigarette an. Nur zur
Beruhigung. Die Herzmaschine quittiert das Ganze mit einem dumpfen Glucksen. Nikotin
erregt künstliche Herzen. Jetzt beginnt das aufgeregte Warten. Die rauchenden
Herzmaschinen rollen davon, Richtung Kranken-Notfallaufnahme. Dort kommen die
Spenderherzen an. Das ist der Reiz.
Sie sehen also den Unterschied: Reize reizen, weil sie unser Überleben testen. Gleich
kommt der Oberarzt, dann wird sich herausstellen, was schon alle ahnen. Mein Herz ist in
Ordnung, aber mein Rippenfell hat sich entzündet. Dafür gibt es noch keinen
Verkehrsfunk. Diesen Reiz muss ich ganz alleine mit mir ausmachen. Er ist sozusagen aus
mir geboren. Und wie das Aus-sich-selbst-Gebären funktioniert, davon nächste Woche mehr,
wenn ich vielleicht schon entlassen bin und alte Reize als neue betrachte. Herzlichst Ihr
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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