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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.11.2000, Nr. 257, S. BS5

Intensivstation

22. Die BVG macht Ärger, und die DFFB (Film/Fernsehakademie Berlin) hat sich verschluckt. Die BVG versteht sich als Wohnzimmer, in das nicht jeder rein darf, und die DFFB rätselt über Funktionalität. Alle tragen Unterhosen mit "Rohrdamm" oder "Jungfernstieg" drauf und sprechen für alle und vor allem über Funktionalität. "Unser erster Auftrag lautet: Transport. Erst dann kommt unser Herz", sagen BVG und DFFB. Beide haben Angst vor Impotenz und reden offen drüber. Die "Süddeutsche Zeitung" oder die "Welt" wissen aber nichts Besseres, als über die nichtfunktionierenden Aufzüge im DFFB-Gebäude oder im U-Bahnhof am Potsdamer Platz zu berichten. Über nichtfunktionierende Filme redet keiner. Selbst funktionierende Filme müssen nicht unbedingt funktionieren. Und wenn mein Parteifreund Tom Tykwer sagt: "Du kannst es schaffen, wenn du willst! Jeder kann es schaffen! Jeder kann seinen Film durchsetzen, wenn er wirklich will!", dann spricht auch er von Funktionalität im kleinstmöglichen Bereich. Bei einem operierten Magen spricht der Arzt oft schon von Funktionieren, wenn der Patient nur alle vier Stunden kotzt. Manche Patienten kotzen ununterbrochen, heißt es dann. Aber funktioniert der Magen wirklich? Kein Mensch will ins Wohnzimmer der BVG, kein ernstgemeinter Film mehr auf die Leinwand. Alle wollen funktionieren! Egal, ob's funktioniert oder nicht. Wir wollen alle funktionieren. Immer, überall, egal, was auch passiert. Selbst die Botschaft des sympathischen Filmhochschuldirektors Hauff: "Es gibt keine Grenzen mehr. Es gibt keine Reibungspunkte mehr. Alles ist beliebig. Da hatten wir es in den 70-/80er Jahren besser", kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es keiner mehr hören will. Sowas nennt die Freizeit- SZ-Kritikerin "Lion" einfach larmoyant. Und genauso bezeichnet sie auch die Plateauschuhe bei der letzten Goertz-Eröffnung.

Diederichsen hat es in "Kliniken heute" beschrieben. Und natürlich trifft man sich gerne in meinem Zimmer. Aber doch nicht, weil ich von einem funktionierenden Auffangbecken rede, sondern weil ich die Funktionalität meines nichtfunktionierenden Magens gerne als Synonym für Selbstbetrug verstehe. Ich erbreche mich dann bis zu 20mal an einem Tag, und ein Großteil der anwesenden Patienten versteht es als "typisch Christoph". Dabei ist es für mich eine Erleichterung, wenn die quersitzende Nahrung herausgeschossen kommt. Der pure Egoismus. Die totale Befreiung. Und wer getroffen wird, hat selber schuld. Eine Nichtfunktion oder auch Halbfunktion hat etwas Reinigendes. Es sorgt für Ordnung und sitzt genau da, wo man lacht. Das nennt Alexander Kluge den Partisanen. Geist und Atem haben sich nach oben abgesetzt, Fortpflanzung nach unten. Und dazwischen das Zwerchfell. Ein Partisan, der schüttelt. Nach oben und nach unten! Und genau da sitzt das dunkle Loch: der Magen. Autonom, ungepflegt, aber auf Sauberkeit bedacht. Seinem Willen gehört die Zukunft. Und weil ich das spüre, habe ich Bedenken, wenn Erfolgsregisseure von Willen reden.

Ich empfinde Übelkeit, wenn ein Prof. Dr. Dr. Keil der Brandenburger Filmerinnung Millionen von Dollar an Börsenfilmer vergibt, die die Imitation der Funktion der nichtfunktionierenden Funktion vorziehen. Dieser Dr. Dr. hat den Ruin des deutschen Films betrieben. Er hat meine volle Sympathie; denn er flüchtet jetzt nach vorne. Er will jetzt etwas anderes. Er spricht von Fehlern, von Korrektur, von neuen Wegen, die gegangen werden müßten. Von Operationen, die der alles verschluckende Magen noch gar nicht kennt. Die angebliche solidarische Verschluckung im Kulturbereich, zum Beispiel Opernschlucken, Bühnenschlucken, Filmschlucken, . . . bereitet eine der wohl größten Kotzexplosionen der nächsten Jahre vor.

Und keiner will mehr mit DV-Kameras den Dogmaregeln entsprechen. Zum Kotzen gibt es keine Regeln. Das regelt der Magenpartisan ganz automatisch. Und außerdem steht Sigmar Polke noch immer auf Platz 1 der Kunstfunktionalisierungsrichtlinien der Zeitschrift Capital. Herzlichen Glückwunsch!

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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