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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2000, Nr. 263, S. BS3

Intensivstation

23. Auszug aus den geheimen Dokumenten zur U3000. Nicht zur Veröffentlichung steht oben drüber. Aber warum soll das keiner lesen? Ich finde die Geheimniskrämerei völlig unangebracht. Schalten Sie jetzt den Fernseher ein und betrachten Sie die angebotenen Bilder unter dem Gesichtspunkt: Der, der im Bild ist, ist dort das allererste Mal. Er hat viele andere Gesichter studiert, er weiß, worauf es ankommt, er ist eitel und selbstverliebt. Das Bild scheint sich schlagartig zu verändern. Aus dem ernst blickenden Thierse wird zum Beispiel ein eiskalt berechnender Heuchler, aus Christiansen eine Bordellmutter in den tiefsten Slums Venezuelas. Aus der weinenden Hausfrau eine verlogene Thekensau.

Wie kommt das? Es liegt ganz einfach daran, daß der Blick in die Kamera tödlich ist. Und der Blick in den Fernseher nichts anderes als der Blick auf den Friedhof. Und genau da muß jeder hin. Und weil er das weiß, kann er schon jetzt in die Kamera blicken und unseren Verdacht unterstützen, daß das, was er da von sich zeigt, sowieso schon tot ist. Ich werde also meine Gäste in der Sendung mit dem Tode bedrohen. Ich werde ihnen mit einem Elektroschocker drohen, sollten sie mir nicht die Wahrheit sagen. Nur der kleinste Verdacht genügt und 200 000 Volt jagen in die Körper der heuchelnden Gäste. Aber keine Angst. Das werde ich natürlich nicht tun, weil sonst a) die BVG die Sendung abbricht und mir daran nicht gelegen ist und b) ein Toter keinen Stromschlag spürt. Aber wehe, ich sehe noch irgend etwas Lebendiges, dann komme ich meinem Fernsehauftrag nach und werde es in Frage stellen. So ist das mit der Geheimniskrämerei. So ist das mit den Befürchtungen der BVG, der DKV, der AOL, der SPD, der CDU, der ARD, der MTV und vieler anderer ders. Ein multinationaler Konzern zur Verbreitung und Absicherung und Versendung von totem Dasein. Unter anderem ein Erfolgsrezept von Harald Schmidt, der deshalb so einen Erfolg hatte (geht langsam zurück), weil er genauso denkt wie wir, und wir uns deshalb über uns selber freuen. Der über sich selber lachende Tote. Der für andere Tote kämpfende ist somit ein dummer Toter, denn er könnte ja auch für sich selber kämpfen. Das wäre sinnvoller in Zeiten der Totenverfolgung.

Womit wir endlich beim Thema wären. Ich lasse mir die Ahnung, daß ich bereits tot bin, von niemandem nehmen. Ich werde jeden Plan schon allein deshalb veröffentlichen, weil ein Toter kein Recht auf Geheimniskrämerei besitzt. Wir sollten das Holocaustdenkmal schon jetzt in die Erdumlaufbahn schicken, damit wir zu den Toten heraufblicken und nicht immer nur auf ihnen herumtrampeln. Das ist der Inhalt von U3000. Was nutzt es den vielen Toten, wenn sie demnächst auch noch 200 Jahre alt werden können. Ich glaube, der Begriff vom Lebendigsein sollte vor einer weiteren Totenverlängerung untersucht werden. Erst nach Auffinden von tatsächlichem Leben auf der Erde sollte man sich darüber unterhalten, ob die Verlängerung des wirklichen Lebens überhaupt vom Leben gewünscht wird. Daß die vielen Toten sowieso gerne weiterleben würden, ist klar, aber natürlich völliger Bullshit! Ein Blick in den Spiegel, und sie sehen einen berechnenden, heuchelnden, selbstverliebten, sich hassenden Toten. Deshalb hier exklusiv und absolut geheim. Auszüge aus dem Testament der U3000, die am Sonntag losfährt. U3000 - Die Suche nach dem Leben von Morgen. Aktion für saubere Luft für Berlin! (. . .) 5. Christoph erklärt Auswahl der Kandidaten für die Sendung (1:00). 6. Erste Außenschaltung mit Artur bei Eisschwimmer (1:30). 7. Außenschaltung zu Axel bei Kandidatenfamilie. Familienvater hämmert auf Auto ein (1:00). 8. Familie in U-Bahn sowie Robert Stadlober, Roberto Blanco, Alec Empire, Söhne Mannheims, Margot und Maria Hellwig und Justus Frantz geben Wette ab, ob Schwimmer oder die Familie am Auto gewinnt (2:00). 9. entfällt (. . .)

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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