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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.2001, Nr. 201, S. BS6 |
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Intensivstation
40. Sicher haben Sie auch schon gelesen, daß bald eine CD (Deutsche Grammophon) mit dem
Titel "Schlingensief trifft Richard Wagner" herauskommt und daß ich die
Befreiung Wolfgang Wagners durch die Befreiung Richard Wagners fordere. Wie es dazu kam,
lesen Sie hier: Als Sohn eines Apothekers gelangte Wagners Musik an jedem Sonntag so gegen
9.30 Uhr, also gut zwei Stunden nach Frühstück und Frühmesse, in mein gebadetes Ohr.
Mal war es "Tannhäuser", mal "Rienzi", aber am liebsten der Ring.
Gegen 12.00 Uhr verebbte dann der Plattenspieler und es wurde festlich gespeist:
Rindfleischbrühe (heute undenkbar!) und anschließend Rindfleisch mit scharfem Senf,
kleinen Kartoffeln und sauer eingelegtem Gemüse. Wie ich erst später erfuhr, gehörte
auch dies zu Wagners Lieblingsspeisen. Dann, ab 12.30 Uhr, absolute Stille bis 14.00 Uhr
und dann entweder ein Spaziergang oder "Der fliegende Holländer". Warum der nun
unbedingt nach dem Essen und Mittagsschlaf kommen mußte, war mir lange Zeit ein Rätsel,
bis mir mein Vater so um 1974 herum - meine ersten vollgewichsten Taschentücher waren
neben meinem Bett gefunden worden - von einer gewissen Geilheit sprach, die sich, durch
die Umschichtung von Blut in die Magengegend und etwas tiefer, automatisch einstellen
würde.
Wagner hätte diese Erkenntnis sehr ausgiebig geschildert und nach einem hervorragenden
Mahl die Frau seines damaligen Geldgebers fast vergewaltigt, was ihn zur Flucht gezwungen
hätte. Daraus wäre dann der "Fliegende Holländer" entstanden.
Ob das alles so stimmte, weiß ich nicht, aber mein Vater bekam in jenem Moment ganz
feurige Augen, nicht zu verwechseln mit Hitlers feurigen Augen, als er aus Wagners Oper
"Rienzi" kam und völlig durchdrehte. Wagner sei absolut macht-, geld- und
sexgeil gewesen, sagte mein Vater. Hätte er einen Geldgeber gehabt, so hätte er sich
automatisch an dessen Ehefrau rangeschmissen. Wäre er auf der Flucht gewesen, meist aus
Geldnot, hätte er die Eindrücke so verbogen, daß daraus meistens eine Oper geworden
wäre. Wagner wäre nicht der zur Gottheit erhobene Überflieger gewesen, zu dem ihn seine
nur noch geldgeilen, aber eben nicht mehr sexgeilen Bayreuthnachfolger gemacht hätten.
Wagner hätte die Götter vermenschlicht und somit die erste Soap-Opera der Neuzeit
geschaffen: DEN RING!
Was für ein Glück. Meine Faszination für diesen Mann war geboren. Endlich gab es neben
Beuys jemanden, den man als Kyniker bezeichnen konnte und eben nicht nur als Zyniker, so
wie viele im Kulturbetrieb nur noch zynisch waren. Wagner war zu romantisch, zu geil, zu
überheblich, zu verzweifelt, zu begeisterungsfähig . . . Und das ist die Qualität, die
man beim Hören seiner Musik bei Rindfleischsuppe und sauer eingelegtem Gemüse erleben
kann.
Kein abfälliges Witzeln, keine pathetische Imitation. Nein! Wagner ist der Inbegriff
pathetischen Handelns. Doch keine Angst vor diesen endlos unangenehmen Texten, aber alle
Achtung vor so Supermännern wie Siegfried. Auf meiner Deutschlandsuche 1999 haben wir
stinknormale Salami mit Wagnermusik beschallt und die Zuschauer probieren lassen. Und
siehe da, alle sprachen von einem neuartigen Geschmack! Ich weiß, es hört sich sehr
unglaubwürdig an, aber nehmen Sie wirklich mal eine ganz normale Wurst, legen Sie sie vor
den Lautsprecher und beschallen Sie diese Wurst mit beiliegender CD. Möglichst zwei- bis
dreimal. Dann schneiden Sie ein Stück ab und probieren Sie. Die beschallte Wurst schmeckt
anders als die unbeschallte. Mit anderer Musik geht das nicht oder nur kaum.
Allerhöchstens vielleicht mit Bach.
Den kann man auch rückwärts abspielen. Bach war Mathematiker und Wagner Kyniker. Warum
wohl interessierte sich Nietzsche für Wagner? Lesen Sie dazu Nietzsches "Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik". Da wird das Apollinische mit dem Dionysischen
verbunden. Im Laufe der Evolution, so sagt Wagner, wurde das Hirn nach oben und der
Schwanz nach unten getrieben. Dazwischen sitzt der Partisan. Genau um den Bauchnabel
herum. Und wenn er will, kriegt er einen Schüttelkrampf. Das nennt man dann Schluckauf.
Und genau darunter litten Wagner und Nietzsche. Glauben Sie mir also, daß Sie in Wagner
einen Verbündeten finden werden. Totes wird wieder lebendig, und angeblich Lebendiges
wird sterben. Doch im selben Moment erwachen die Toten zu neuem Leben. Ein ewiger
Kreislauf: Wagners Ring und Joseph Beuys' Honigpumpe. Bei beiden geht es um einen neuen
Kapitalbegriff. Hören Sie Wagner, essen Sie Rindfleisch, pumpen Sie ihren Honig, und Sie
werden begreifen, daß Sie das neue Kapital sind. Sie sind das Kapital! Und deshalb wird
der Ring nicht mehr im Rhein versenkt, sondern in den Sand gesetzt. Denn auch Sie sind auf
Sand gebaut. "Das ist die Qualität der Oper!" sagte mein Vater: "Sie ist
im Grunde das Protokoll, also ein Zerrspiegel, über dreihundertfünfzig Jahre
bürgerliche Geschichte. Da kommt kein Irrtum vor, den die bürgerlichen Gesellschaften
nicht auch begangen haben. Man muß nur richtig lesen. Und so nimm das als eine
Architektur, also einen Zerrspiegel eben, wie gesagt."
Und ich nahm meinen Vater beim Wort und verstand, daß alles, was ich ab sofort zu tun
hatte, nur einen Sinn haben konnte, nämlich: zu leben!
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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