|
|
|
|
|
INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2000, Nr. 134, S. BS4 |
|
Intensivstation
5. Der Arzt spricht von Besserung, warnt aber vor einem Rückfall, sollte ich auf einer
Verlegung nach Wien bestehen. Dabei wäre doch ein Rückfall ein wirklicher Rückschritt
und das Gegenteil von Rückfall wäre ein Vorfall. Ein Vorfall ist aber eigentlich auch
ein Rückschritt (siehe Bandscheibe). Man kommt so oder so nicht von der Stelle. Der
Körper zerfällt auch ohne Rückfall. Und es gibt sogar Fälle, wo ein Rückfall den
körperlichen Zerfall aufhalten konnte. So gelang zwar einigen Karrieristen seit Beginn
der Berliner Republik ein schneller Aufstieg (z. B. im
Bereich politisches Theater), aber der zu schnelle Aufstieg brachte folgendes Problem: Das
Gehirn konnte nicht mitwachsen. Der Körper war topfit und auf Erfolg getrimmt, aber das
Gehirn verweigerte die Gefolgschaft. Bei langsamen Karrieren, vergleichbar mit gutartigen
Geschwülsten, besteht eine absolute Einheit von Geist und Körper. Diese Menschen sind
stabil und leben länger. Ich appelliere also an alle Gesunden, sich der
lebensverkürzenden Euphorie entgegenzustellen und es mal mit einer lebensverlängernden
Krankheit zu versuchen. Das Motto aus früheren Tagen: Wir sind gesund und ihr seid krank,
gilt nicht mehr. Nur der Kranke verlängert sein Leben.
Ein wunderbares Motto für eine Reise nach Österreich. Die Luft im Wagen ist miserabel.
Zwischenstation in Prag, dann ohne Pause weiter und nach 14 Stunden bewusstlos in Wien.
Mein Zustand hat sich verschlechtert. Wieder ein paar Jahre dazugewonnen. Der Empfang ist
mäßig. Die ersten zwei Kliniken verweigern die Aufnahme. Hermann Nitsch vermittelt. Ich
bekomme ein Zimmer mit Ausblick, vor mir die Oper. Davor ein hässliches Containerdorf.
Eine Unverschämtheit.
Der erste Kontakt zu anderen Patienten verläuft besser als erwartet. Fast alle sind
eigentlich gesund, haben sich aber auf eigenen Wunsch hier einliefern lassen. Die
politische Situation habe sie dazu gezwungen. "Wer jetzt noch etwas retten will, soll
sich erst mal selber retten", sagt mein Zimmernachbar, ein ehemaliger Stadtrat.
Gerade in Wien gibt es genug neue Menschen, die sich auf eigenen Wunsch operieren lassen,
l'art pour l'art als politisches Kampfmittel.
Danach Rekonvaleszenz und anschließend die nächste Operation. Auf eigenen Wunsch! Das
ist radikal, das ist wirklich revolutionär. Wer sich nicht selber revolutioniert, kann
nichts verändern. Wer sich verändert, ist krank und darf an unserer OP-Gruppe
teilnehmen. Jede Woche muss einer die Klinik verlassen. Diesmal trifft es einen
Trinkhallenbesitzer aus dem 6. Bezirk. Nur noch ein Bein, eine Niere und ein sehr
unregelmäßig schlagendes Herz. Doch Herr Unterreiner ist voller Freude. Mit schwacher
Stimme erzählt er von seiner Wohnung, von der gemütlichen Sitzecke und dem Wannenaufzug
im Bad. Wir bringen ihn zur Türe, Unterreiner fährt davon. Ich verrate sicher nicht zu
viel, wenn ich schon jetzt erzähle, dass Unterreiner nicht mehr zurückgekehrt ist. Als
er seine Wohnung betrat, war diese bereits leer geräumt. Unterreiner ist an einem
Heulkrampf erstickt. Die Verwandtschaft hatte ihn schon lange vorher aufgegeben.
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weitere Beiträge und Kolumnen von Christoph Schlingensief
|
|
|
|
|
|