|
|
|
|
|
"Weltabschiedswerk" als existenzialistisches Endzeittheater
Von Jörg Riedlbauer. Landshuter Zeitung
Christoph Schlingensiefs erschütternd faszinierende Neuinszenierung des "Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen
Hartnäckig hält sich die naive Legende, Wagner hätte mit seinen Dramen beschauliche His-törchen aus der deutschen Sagenwelt auf die Bühne gebracht. Noch immer bedarf es philolo-gischer wie theaterpraktischer Anstrengung gleichermaßen, dass Mythos und mittelalterliche Rittergeschichten bei Wagner als Folie zu begreifen sind für eine zunehmend kulturpessimis-tisch eingetrübte kritische Sicht auf Gesellschaft und Welt, die sich im "Ring" als Abrechnung mit dem Frühkapitalismus ausprägt und im Nachfolgewerk "Parsifal" noch radikaler als im "Tristan" den Ausweg, die "Erlösung" nur im Tode sieht. Zeigt Wagner diesen für ihn einzigen Ausweg im "Tristan" noch als individuelles Schicksal zweier Liebender, die an der Gesellschaft scheitern, scheitert im "Parsifal" die Gesellschaft als Kollektiv. Die Hoffung bleibt Utopie: "Erlösung dem Erlöser" sind die viel umrätselten Schlussworte der Oper, die doch nichts anderes bedeuten als dass auch der durch eigene Schuld erlösungsbedürftig ge-wordene Parsifal durch seinen eigenen Tod Erlösung finden und wie zuvor schon der alte Gralskönig Titurel als "ein Mensch wie alle" sterben wird. Sterben und Verwesen sind die Voraussetzung zur Erlösung - dies ist die tief existenzialistische Kernaussage von Wagners "Parsifal", und sie ist wohl noch nie so wörtlich genommen visualisiert worden wie jetzt von Christoph Schlingensief in dessen genauso erschütternder wie faszinierender Neuinszenierung bei den Bayreuther Festspielen.
Zu den harfenumspielten As-Dur-Klängen beim allmählichen finalen Aufleuchten des Grals verwest auf der Großbildleinwand ein Hase, als Fruchtbarkeitssymbol seit Jahrtausenden be-kannt. Verlässt dann die Musik zu den Worten "Höchsten Heiles Wunder" diesen Tonraum, erscheint Parsifal in einem zunehmend gleißender werdenden Lichtkanal im oberen Bühnen-hintergrund, exakt korrespondierend übrigens zu Wagners Regieanweisung "Zunehmende Dämmerung in der Tiefe, bei wachsendem Lichtscheine aus der Höhe" - dies nur ein Beispiel dafür, wie ernst es Schlingensief mit der Umsetzung von szenischen Vorschriften des Kom-ponisten gemeint hat.
Schlingensief entwickelt seine Inszenierung konsequent aus Amfortas' unsäglich schmerzhaf-ter Todkrankheit, die ihn in der Klageszene des 1. Aufzuges seiner unstillbaren Todessehn-sucht herausschreien lässt. "Alles schreit", brachte es Wagner in einem Gespräch mit Cosima einst auf den Punkt, und die Zahl der auskomponieren Schreie der erlösungsbedürftigen Gralsritter beim Anblick von Titurels Leiche gleichermaßen wie jene der Individuen Kundry, Klingsor, Parsifal oder Amfortas lassen alles hinter sich, was Opernmusik vor 1882 gewagt hat. Nimmt man noch Wagners theoretische Schriften aus der "Parsifal"-Zeit als Reflexions-rahmen hinzu, insbesondere seine Äußerungen über die "Folterkammern der Wissenschaft", in denen er gegen die Vivisektion zu Felde zog, wird auch verständlich, weshalb Schlingensief vor dem "Karfreitagszauber" Projektionen von Robbenbabys in das Bühnenbild integrierte. Es wäre durchaus im Sinne von Wagners heftiger Kritik am die Kreatur schändenden Menschen gewesen, das schreckliche Schicksal dieser Tiere auch noch zu zeigen.
Schlingensief also versteht das "Bühnenweihfestspiel" Parsifal zum Einen als Passion und Totenfeier, als "Weihfest", zum Anderen als Theaterstück, als "Bühnenspiel", das sich mittels des darstellenden Spiels mit dem unausweichlichen Lebensweg jedes Sterblichen auf seinen Tod hin auseinandersetzt. Ausgehend von Wagners Formulierung, "in die Tiefe des Todes zu blicken", bezieht er in seine Bildersprache jene Erfahrungsberichte von Nahtod-Betroffenen mit ein, welche ein Licht am Ende des Tunnels zu erblicken glaubten, zugleich auch Stationen ihres Lebens kaleidoskopartig an sich vorbeiziehen sahen. Dies verbindet er mit Wagners Kulturpessimismus: der Mensch schleppt zeitlebens Material aus dem Schutthaufen der Kul-tur- und Weltgeschichte mit sich herum. "Durch Mitleid wissend zu werden" heißt dann in seiner Sicht, durch die Lebens- und Sterbenserfahrung eines Anderen eigenes Todesbewuss-tsein zu entwickeln. Schlingensief zeigte dies ergreifend in der Abendmahlsszene des 1. Auf-zugs, als der "reine Tor" Parsifal erstmals mit dem Leiden des Amfortas konfrontiert wurde. Diese Szene wiederum siedelte der Regisseur nicht in einem christlichen Sakralraum an, son-dern als ein Ritual der Weltreligionen, angesiedelt in Afrika als einem Land, in dem fernab von moderner Säkularisation noch Glaube in einer Art Ur-Sinn zelebriert wird. In diesem Zu-sammenhang lohnt der Hinweis auf Wagners eigene Inszenierung seines "Parsifals" bei den Bayreuther Festspielen 1882: Schon damals war die Gralsburg kein eindeutig christlicher Sak-ralraum, und den zeitgenössischen Abbildungen ist gleichfalls zu entnehmen, dass Bogen- und Sternenelemente sowie enigmatische Rundembleme schon damals im Spiel waren und nicht erst durch den angeblich so Wagner-fernen Schlingensief eingeführt wurden. "Das Kunstwerk Parsifal ist überwältigend und soll überwältigen, wie es dem Thema entspricht", ist als Arbeitsmaxime des Regisseurs zu lesen. Diesem Anspruch sind er wie auch sein Team (Daniel Angermayr, Thomas Goerge, Voxi Bärenklau und Tabea Braun) auf der ganzen Linie gerecht geworden. Diese Bayreuther Inszenierung dürfte von vergleichbar epochaler Bedeutung werden wie Chéreaus "Ring" vor fast 30 Jahren.
Im musikalischen Bereich wurden derart epochale Qualitäten nur vom Dirigenten Pierre Bou-lez erreicht. Wie schon bei seinem Legende gewordenen "Parsifal"-Dirigat in den späten 1960er-Jahren zeigte er auch jetzt wieder, wie konsequent der Komponist in seiner letzten Oper mit der romantischen Ästhetik gebrochen hatte, wie sehr er zum Wegbereiter des Im-pressionismus geworden ist, wie modern und kühn er die Gesetzmäßigkeiten von Harmonie-lehre und Melodiebildung hinterfragte. Das Orchester wogte und flutete, schimmerte und changierte, dass es eine wahre Freude war. Hinzu kam eine strukturelle Klarheit und Transpa-renz bei Boulez' Auslegung der Partitur, die ihresgleichen sucht.
Stimmlich gebührt das Extra-Lob der Aufführung den Kollektiven: Eberhard Friedrichs wie-der einmal grandiosen Chören sowie den exzellenten Ensembles der beiden Gralsritter, der vier Knappen und der sechs Solo-Blumenmädchen. Überzeugend auch in den kleineren Par-tien das hingebungsvoll verströmende Altsolo von Simone Schröder und der kultivierte Titurel von Kwangchul Youn. Fulminant: der (nicht nur) schwarz timbrierte John Wegner als Klingsor; überdurchschnittlich die bei aller dramatischer Durchschlagskraft weich artikulie-rende Michelle de Young (Kundry). Seriös und sonor gab Robert Holl einen gepflegten Gur-nemanz, und Alexander Marco-Buhrmeister ließ die Leidensszenen des Amfortas zu theatra-lisch wirkungsvoller Größe anwachsen. Endrik Wottrich verfügte in der Titelrolle über aus-reichend Metall, hatte jedoch Ausfälle im 3. Aufzug und machte auch darstellerisch die Ent-wicklung vom "reinen Toren" zum "mitleidvoll Wissenden" zu wenig glaubhaft. Man darf gespannt sein, wie sich dieser neue "Parsifal" über die nächsten Jahre hin weiter entwickelt.
Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2004
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
|
|
|
|
|
|