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Weltabschiedswerk in heiterer Zartheit
Schlingensiefs Bayreuther "Parsifal" rundet sich im zweiten Jahr
Fränkischer Tag, 01.08.2005. Von Monika Beer.
"It's Wagner", sagte nach dem Buhgewitter im Zuschauerraum und dem anschließenden Orkan draußen die amerikanische Rockpoetin Patti Smith. "It's his energy". Und meinte das in positivem Sinne, auch und gerade in Bezug auf die "Parsifal"-Inszenierung, die den diesjährigen Premierenreigen in Bayreuth beschloss.
Eine außerordentliche Energieleistung in der Tat, und zwar von allen Beteiligten: Jetzt erst, in ihrem zweiten Aufführungsjahr ist - wie vorhergesagt - diese Inszenierung ganz bei sich angekommen. Christoph Schlingensief und sein Team haben die Werkstatt-Chance genutzt, viel geändert und verbessert, insbesondere was die Personenführung betrifft.
Das Bühnenbild mit ganz unterschiedlichen Bauten zwischen eingezäuntem Elendsquartier und klassischen Architekturen auf der randvoll gestellten Drehbühne ist im Wesentlichen gleich geblieben, wurde allerdings spürbar im Kleinteiligen entrümpelt und wirkt dadurch deutlich besser strukturiert und je nach Beleuchtung sogar überraschend transparent.
Auch die im Vorjahr noch alle anderen Eindrücke überlagernden Videobilderfluten auf den viel bewegten Projektionstüchern sind so zurückgenommen, dass sie zwar nach wie vor der Aufführung ihren Stempel aufdrücken, aber auch hier gilt: Weniger ist mehr. Umgekehrt sorgen zwei Doubles für größere szenische Prägnanz. Parsifal und Kundry sind fast ständig präsent und begegnen zuweilen gleichsam sich selbst.
Das klingt verwirrender als es ist. Die Doppelgänger schärfen das Profil der Figuren, geben Einblicke in deren Vorgeschichte oder greifen voraus und ermöglichen die gleichzeitige Darstellung bestimmter Aspekte, die man so noch nie gesehen hat. Das noch im Vorjahr beklagte Laienspieltheater ist einer fast zu stark auf Psychologie fußenden, insgesamt überzeugend sich rundenden Personenregie gewichen.
Wo der Regisseur eindeutig vom Textbuch abweicht, macht es Sinn. So verwundet der schwarze Voodoo-Zauberer Klingsor auch Kundry, deren Stöhnen zu Beginn des Schlussakts damit eine ganz reale Begründung erfährt. Und ausgerechnet der Buhmann Schlingensief beschert dem Publikum letztendlich das, was es in anderen Produktionen so schmerzlich vermisst: ein glückliches Paar! Wie im dritten Akt Kundry und Amfortas zueinander finden, ist ein kleiner großer Theatermoment, der mir auf immer haften bleibt in der Erinnerung.
Solisten, Statisten und die auch stimmlich großartigen Choristen treten wie befreit auf und mit jener Selbstverständlichkeit, die szenische Glaubwürdigkeit erst herstellt. Hier zahlt sich bestimmt auch der Wechsel des Titelprotagonisten aus. Endrik Wottrich, der sich im Premierenjahr nicht zu schade war für eine öffentliche Schlammschlacht gegen Schlingensief, sang den Parsifal bestimmt schöner als jetzt Alfons Eberz. Dafür ist Letzterer aber darstellerisch so intensiv, dass man das allzu Laute und noch Ungefüge gern in Kauf nimmt.
Michelle de Young hat sich hörbar gesteigert; sie kann in den kommenden Aufführungen so viel Selbstvertrauen tanken, dass sich das, was ihrer Kundry noch an stimmlichen Abgründen fehlt, von selbst einstellen wird. John Wegners bezwingender Klingsor, der niemals larmoyante Amfortas von Alexander Marco-Buhrmester und Kwangchul Youn als Titurel singen auf hohem Festspielniveau.
Selbst der darstellerisch oft hölzern wirkende Robert Holl als Gurnemanz beglaubigt die Inszenierung. Er ist sozusagen die historische Instanz und wirkt in seinem Zottelbart und -pelz, in seinem neuen Rupfenkostüm des dritten Akts wie ein ferner Gruß von Emil Scaria aus der Uraufführungsproduktion. Der Regisseur hat also einen Weg gefunden, seiner aufrichtigen Bewunderung der sängerischen Kompetenz Holls den passenden szenischen Rahmen zu geben.
Was diese Inszenierung im Kern von allen bisherigen unterscheidet, ist ihre Weltoffenheit. Von Schlingensief lernen wir, dass der Weltkünstler Wagner nicht eine bestimmte Religion gemeint haben kann, sondern dass es Glauben, Dogmen und Riten überall gibt, dass Wagners Weltabschiedswerk die letzten Dinge zwar zwangsläufig in unserer christlichen Kultur verortet hat, aber weit darüber hinaus interpretiert werden kann und muss - in einem Korridor von Zeit und Raum, wo der Titurel-Sarg von anno 1882 und der Video-Clip aus dem 21. Jahrhundert mit den zu Wagnerklängen sich wiegenden Robben zu einer Einheit finden.
Pierre Boulez im Orchestergraben unterstreicht das. Wie schon im Vorjahr ist seine musikalische Interpretation wunderbar leicht, ganz frei von Schwüle, falscher Süßigkeit, frei von Unzartheit und jeglichem Pathos, frei auch von dem Weihrauch, der sich schon eingefressen hatte bis hin zum absurden "Applausverbot" nach dem ersten Akt, diesem schrecklich langlebigen Missverständnis.
Es ist ein großes Geschenk, Boulez noch einmal in Bayreuth erleben zu dürfen. Was ihn von den anderen Hügel-Dirigenten unterscheidet, liegt auf der Hand. Selbst ein Komponist findet er im großen Bogen wie im kleinsten Detail einen wissenden und klar strukturierten Weg durch "der Irrnis und der Leiden Pfade", die hier in einem gleißend hellen Lichtkorridor, im Nirwana des Festspielhauses enden.
Schon der vibratolose Streicherklang, mit dem er das Vorspiel ganz behutsam aus dem Abgrund anwachsen lässt, macht deutlich, dass Diskussionen um seine Schnelligkeit müßig sind. Bei Boulez ist der "Parsifal" nur zwölf Minuten kürzer als bei der Uraufführung unter Hermann Levi, über dessen "geschleppten" Tempi sich Richard Wagner - nachzulesen in Cosimas Tagebüchern - immer wieder beklagte.
Und wie in den aufregenden Jahren des Chéreau-"Rings" 1976 bis 1980 zeigte sich der Dirigent jetzt wieder ostentativ mit einem heftig ausgebuhten Regisseur. Ein denkwürdiger Abend, dem in dieser Konstellation nur noch vier weitere folgen werden. Dann wird der überaus jung gebliebene, 80-jährige Magier Pierre Boulez endgültig seinen Abschied vom Festspielhaus nehmen. Wer das Privileg hat, eine seiner letzten "Parsifal"-Aufführungen zu erleben, der kann das "Hier knien", das Schlingensief auf den Boden der Drehbühne eingelassen hat, plötzlich nicht mehr nur als ironisches Aperçu sehen. Danke Pierre Boulez.
Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2005
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
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