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Fortdauernde Bewegung macht hier den Raum zur Zeit
Der "Parsifal" von Schlingensief und Boulez überzeugt auch in seinem zweiten Jahr bei den Bayreuther Festspielen
Stuttgarter Nachrichten vom 01.08.2005. Von Egbert Tholl.
Nach der Erlösung auf der Bühne folgt die für die Zuschauer: Ein gewaltiges Gewitter geht über Bayreuth nieder, schlägt Äste von den Bäumen - auf der Fahrt den Grünen Hügel hinunter trotzt man stark wasserhaltigen Sturmböen und umkurvt viel Flora, die nicht mehr dort ist, wo sie hingehört. Kurz zuvor war das Publikum nach sechs Stunden im "Parsifal"-Glutofen keineswegs zu ermattet gewesen, um nicht beim Erscheinen von Christoph Schlingensief in heftigsten Disput auszubrechen.
Zwar überwog die Entrüstung, aber eine Schar von Liebhabern hat diese Inszenierung mittlerweile gewonnen. Der große Rest erfreute sich mit Ovationen im Stehen am Dirigenten Pierre Boulez und den Sängern (auch wenn sich bei Parsifal Alfons Eberz ein paar kleine Buhs einschlichen). Schlingensief nahm"s gelassen und winkte fröhlich ins Publikum. Bei aller charmanten Jugendhaftigkeit ist er ohnehin mehr Philosoph als Regisseur, das tut der Entspannung gut. Diesmal konnte er friedlich arbeiten, weil das öffentliche und interne Interesse auf Marthalers "Tristan" lag und auch Endrik Wottrich nicht mehr dabei war, der im vergangenen Jahr als Parsifal pünktlich zur Premiere eindrucksvoll seine ganze Dämlichkeit mit indiskutablen Äußerungen bewiesen hatte.
Nun plaudert der Regisseur in der Pause freundlich hinter der Bühne mit Gurnemanz Robert Holl, der seine mächtige, aber zu wenig geformte Stimme in ein Fell aus den Urzeiten des "Parsifal" verpackt hat, das er mit Stolz und Wissen trägt. Außerdem hat sich Schlingensief seine Familie Zander mitgebracht, einen Berliner Faktotumsschatz, der auf seine eigene Rechnung ("die kriegen 37 Euro am Tag") durch die Aufführung wuseln darf. Was in diesem Kulturverhau ja keineswegs groß auffällt.
Auch jene, die "Parsifal" 2004 gesehen haben, können kaum sagen, was in diesem Jahr verändert wurde. Irgendwie sei etwas anders, vor allem der zweite Akt. Aber wie genau? Begreift man "Parsifal" als eskapistisches Spätwerk, in dem eine obsessive Privatreligion und ein nicht minder obsessives Verständnis von Sexualität ausgebreitet und mit dem ganzen Dasein an sich verbunden wird, dann ist Schlingensiefs avanciertes Meta-Regietheater die heute tatsächlich einzig mögliche Entsprechung. Wie er in Projektionen und auf der sich unermüdlich drehenden Bühne Kulturschicht auf Kulturschicht, Afrika auf Europa häuft, Geschichtsikonen mit Privaterfahrungen anreichert und mit der permanenten Bewegung (auf) der Bühne doch letztlich nur die Musik bebildert, deren fragmentarischen, bruchstückhaften Charakter Boulez bei seinem letzten Bayreuther "Parsifal"-Dirigat in Rekordtempo in Richtung lyrische Esoterik zerfieselt, das ist großartig. Da sind der große alte Komponist und Dirigent und der nicht mehr ganz junge Weltumarmer nah beieinander.
Der Vorwurf, Schlingensiefs Wahnsinn überdecke die Musik, ist Unsinn. Würde Alfons Eberz als Parsifal nur einen Hauch Textverständnis mitbringen und nicht lediglich outriert orgeln, würde Michelle de Young als Kundry sich um ein Fundament für ihre ekstatischen Spitzentöne kümmern, würden alle einen so noblen wie klaren Zugang zu ihrer Partie finden wie Alexander Marco-Buhrmester als Amfortas, die Idee, den Gehalt des "Parsifals" zu inszenieren und mittels Bewegung aus dem Raum Zeit werden zu lassen, ginge perfekt auf.
Natürlich ist man überfordert, kann nicht alles verstehen. Achtet man etwa zu sehr auf die neuen Schauspieldoubles von Parsifal und Kundry, wird der sexuelle Drang klar, aber die Erlösung verrutscht. Rätselt man zu lange über den Hasen, die daueranwesende, vielgestaltige Bildikone, die von Verwesung und Neubeginn kündet, verliert man den religiösen Gehalt aus den Augen. Doch Schlingensief ist nie fahrlässig - und entwirft mit Boulez zusammen ein so hinreißend berührendes Schlussbild, einen Lichttunnel der Zukunft, dass auch der letzte Widersacher überzeigt sein müsste. Chéreaus Wunder-"Ring" löste 1976 Entrüstung aus. Heute gilt er als Meisterwerk. Keine schlechten Chancen für Schlingensiefs "Parsifal".
Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2005
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
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