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»Die Bilder werden bleiben«
Richard Wagner: PARSIFAL, Bayreuther Festspiele 2007 - besuchte Vorstellung: 13. August 2007.
Von Dirk Altenaer, DER NEUE MERKER, Österreich
In großen Lettern beherrscht das eingangs zitierte Motto den Abenteuerspielplatz des Unbewußten, in dem der schwarze Zauberer Klingsor herrscht. Und es sind diese wie Menetekel aufflammenden, aufblitzenden sich uns in Auge und Seele ätzenden "Worte, Zeichen, Male" mit denen Christof Schlingensief sowohl stört, verstört doch auch dem Offenen, dem sehen und wissen Wollenden den Blick schärft, den Verstand unbewußt bewußt öffnet.
Jetzt, im letzten Jahr dieser wohl umstrittensten Produktion, die es in den letzten Dekaden am Grünen Hügel zu erleben galt, scheint sie ihren Weg gefunden zu haben. Das schöpferische Chaos, das sich auf den Brettern des altehrwürdigen Tempels anhäuft, scheint sich gefestigt zu haben, die Projektionen sind auf ein vom Regisseur zu vertretenden Mindestmaß reduziert, bleiben dafür aber nicht minder befremdend wie bewegend. Läßt man sich auf Schlingensiefs Arbeit ein, ohne sich von vorn herein zu blockieren, erlebt man das Bühnenweihfestspiel, wirklich einmal als ein solches und zwar bar jeden kitschigen Versuchs einen Parallel-Gottesdienst auf die Bühne zu hieven. Der Zuschauer wird zum Avventure-Held seiner eigenen Reise, der Reise in sein jeweiliges Ich, in sein Unbewußtes. Schlingensiefs Bilder bieten dafür keine Lösungen, sondern liefern den Agens in sich, seine ureignen archaischen Bilder wachzurufen.
Wie es Schlingensief gelingt, diesen sehr filmischen Ansatz auf die in ihrer Statik verhafteten Bühnenaufführung zu retten, nötigt höchste Achtung ab - und es ist wirklich zu bedauern, wie schon in einigen Tageszeitungen zu lesen war, daß es eine filmische Aufzeichnung - in welcher Form auch immer - auf dem öffentlichen Markt nicht geben wird. Auch hat man die Chance vertan, diese visionäre Produktion auf geeigneten Art-Events zu präsentieren, dafür ist Schlingensief wohl zur Zeit einer der ganz wenigen auf dem Hügel, dem es ernst um Wagner ist und der den Werkstattcharakter nutzt und respektiert - einer solchen Wandlung hat sich m. E. vor ihm nur der sog.
"Jahrhundertring" von Patrice Chereau unterzogen.
Nun scheint der Regisseur mit dem diesjährigen Ensemble auch sein Ideal gefunden zu haben. Eine solch homogene Leistung, in der bis zur kleinsten Rolle jede feinste Nuance stimmt, ist leider die größte Ausnahme. Dazu das feine auszilisierte Dirigat von Adam Fischer, dem das Wunder gelingt, die Tempi den Videoinstallationen von Meika Dresenkamp und der grandiosen Lichtregie von Voxi Bärenklau anzupassen und dabei eine Klangbogeninstallation gelingt, die weder überhitzt ist, noch in falschem Pathos versinkt. Dazu die grandiosen Chöre (wieder einmal!) von Eberhard Friedrich souverän einstudiert.
In ihrer Schlichtheit berührend die schreitende Glaubensfigur, die dem pastosen Altsolo von Simone Schröder Leben einhaucht und den grüblerischen Gurnemanz zurückläßt, den Robert Holl mit balsamischen Baß mit äußerster Präzision der Diktion zum Ereignis werden läßt. Alfons Eberz ist inzwischen mit seinem dunkeltimbritierten Tenor völlig eins mit der Rolle des Parsifal geworden, dem tief berührende Momente in seinem Klagemonolog gelingen. Jukka Rasilainen ergreift in seiner durchdringenden Interpretation des standhaft leidenden Gralskönig bar jeglicher Larmoyanz, erschütternd wie er den Abschied von seinem toten Vater durchleidet - eine der stärksten Szenen und Bilder der Inszenierung. Auch seinem Widerpart, dem dunklen-unbewußten Klingsor, gewinnt Karsten Mewes schwärzeste Töne ab. Die nobel resoluten Mahnungen Titurels hätte man von Artur Korn gern auch optisch wahrgenommen.
Die größte Interpretationswandlung macht in Schlingensiefs Parsifal-Deutung Kundry durch, die schon im Vorjahr durch die überragende Evelyn Herlizius an Kraft und Gestalt gewann. Dieses Jahr gelang ihr eine grandiose Leistung nicht nur in stimmlischer Bestform (makellos gelangen ihr die heikelsten Stellen der Höllenrose im zweiten Aufzug) auch erweist sie sich als ideale Trägerin der Interpretation. Nun zur büßenden Psychotherapeutin mutiert, die an der Stelle \"Bekenntnis wird Schuld in Reue enden, Erkenntnis in Sinn die Torheit wenden\" zwischen Beichtstuhl und Therapeutencouch sitzt.
"Die Bilder werden bleiben" aber man wird sie auch vermissen: Das zarte Rosa des Morgenrots zu Beginn des ersten Aufzugs, die qüälenden Projektionen des Gewürms, das die Blutbahnen und Zellen zerfrißt angesichts der Wehklage Amfortas, die ästhetisch archaischen Ritualchoreographien, die die Wandlungsmusik begleiten, der erschütternde Schluß, der dieses Jahr etwas von seiner nihilistischen Konsequenz einbüßte.
»Der letzte Liebende«
Christoph Schlingensief verabschiedet sich mit seinem "Parsifal" aus Bayreuth - und will unbedingt wiederkommen.
Von Frederik Hanssen, Der TAGESSPIEGEL
Ohne Saalschlacht geht es auch diesmal nicht. Die Buhrufer schreien sich die Stimmbänder wund, die Fans klatschen mit erhobenen Händen, überall sind Leute aufgesprungen, um den Auftritt des Regieteams besser sehen zu können. Da winkt Christoph Schlingensief von der Bühne - und viele, viele winken zurück. In seinem vierten Jahr ist sein "Parsifal" zwar kein Klassiker geworden, wie 1980 der von den konservativen Wagnerianern zunächst so wütend bekämpfte "Jahrhundert-Ring" des Patrice Chéreau. Aber die Produktion ist nahe am Kult. Weil aus der wüsten Vision des Premierenjahrs ein tief bewegender Theaterabend geworden ist. Weil Schlingensief in seinem heiligen Ernst die Herzen des Publikums gewinnt.
Natürlich stimmt, was ein erboster Spanier am Ende des zweiten Aktes ruft: "Loco!" Dieser Regisseur ist ein Verrückter - und deshalb genau der Richtige für die Bayreuther Wagner-Festspiele. Und für den "Parsifal", diese Zeit und Raum aufhebendeWeltumarmung. Schlingensief wirft die gesamte christliche Ikonografie über Bord - und doch kann man das Stück kaum religiöser auffassen als er, kaum mythischer, allumfassender. Das vom Lichtdesigner Voxi Bärenklau durch eine barocke Trompe- l'oeil-Technik aller rationalen Nachvollziehbarkeit enthobene Spektakel ist eine wirkliche Feier. Hier geht es um die letzten Dinge.
Der Tod ist immer rätselhaft, hat tausend Gesichter - genau davon erzählen die Videos von Meika Dresenkamp. Vieles erkennt man nur flüchtig, weil wuchernde Ornamente, Fotoprojektionen und Filme sich meist überlagern. Auch der Multikultimix der Gralsgesellschaft ist hinter dem Leinwand-Gazeschleier nur zu erahnen. So entsteht ein Zaubergarten moderner Albträume wie sie womöglich in Flüchtlingscamps und Favelas geträumt werden. "Die Bilder werden bleiben", haben die Bühnenbildner Daniel Angermayr und Thomas Goerge in JonathanMeese-Manier auf eine der Bretterbuden gepinselt. Wie wahr.
Die Bayreuther Festspiele müssen in den kommenden drei Jahren ein Defizit von 1,6 Millionen Euro verkraften. Die staatlichen Zuschüsse sind seit Jahren nicht der Inflationsrate angepasst worden, da entsteht bei einer festgeschriebenen Zahl von 30 sommerlichen Aufführungen und einem deshalb konstanten Umsatz von 17 Millionen Euro im Wirtschaftsplan schnell ein Minus. Die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth hat zugesagt, die Summe auszugleichen, und wer mag, kann auch ein Statement des FDP-Politikers Hans-Joachim Otto als positives Signal einer anstehenden Subventionserhöhung deuten: "Kultur", hat der Vorsitzende des Bundestags-Kulturausschusses jüngst bei einem Bayreuth-Besuch gesagt, "findet nicht nur in Berlin statt".
Von einer Finanzkrise mag Festspiel-Pressesprecher Peter Emmerich auch gar nicht sprechen. Und von einer künstlerischen Krise will Clan-Chef Wolfgang Wagner sowieso nichts wissen. Dennoch wird Schlingensiefs "Parsifal" nach nur vier - statt wie sonst üblich fünf - Jahren aus dem Spielplan genommen und bereits im kommenden Sommer durch eine Neuproduktion mit dem italienischen Dirigenten Daniele Gatti und dem norwegischen Regisseur Stefan Herheim ersetzt. Wenn sich die Festspielleitung da mal nicht vergaloppiert hat. Denn nach all den Routiniers, Fotorealisten, Schaumschlägern, Experimentierfreudigen, Entschleunigern oder schlicht Fehlbesetzungen der letzten Jahre ist Herheim ein illusionsloser Analytiker, ein ehrgeiziger, methodisch herzkalter Stückezerleger, dem definitiv nichts heilig ist.
Christoph Schlingensief hingegen, das hat sein "Parsifal" am Freitag noch einmal auf ergreifende Weise deutlich gemacht, ist der letzte große Liebende auf dem Grünen Hügel von Bayreuth seit Heiner Müller. Ein Besessener, der den so oft beschworenen und so selten genutzten Werkstattcharakter der fränkischen Festspiele beim Wort nimmt. Dass die Regisseure hier gebeten sind, vor jeder Wiederaufnahme an ihrer Interpretation weiterzuarbeiten, hat Schlingensief nicht als Fron, sondern als echte Chance begriffen - und genutzt. Im vierten Jahr ist seine szenische Installation zur auch psychologisch erhellenden Inszenierung gereift, haben die Figuren, zunächst mehr Behauptung als Charakter, ein menschliches Antlitz erhalten. Die Sänger leben ihre Partien mit jeder Faser ihres Körpers, Alfons Ebertz als Parsifal und Jukka Rasilainen als Amfortas wagen es, ihren Schmerz herauszuschreien, Evelyn Herlitzius singt eine geradezu expressionistische Kundry. Robert Holl verströmt sich wundermild und macht aus Gurnemanz eine Mosesgestalt, wie Schlingensief sie sich wohl erträumt hat. Im Graben schließlich beglaubigt Adam Fischer durch einen betörenden, mit der kosmischen Unausweichlichkeit des endlosen Ozeans auf und ab wogenden Orchesterklang die humanistische Botschaft des Bühnenweihfestspiels.
"Bayreuth hat mir ungeheure Möglichkeiten eröffnet und mir eine Beherrschung meiner selbst beschert", resümiert Schlingensief seine Hügel-Erfahrung im "Nordbayerischen Kurier". Und natürlich will er wiederkommen, in ein paar Jahren, wenn er noch mehr dazugelernt hat. Gerne würde er den "Tristan" inszenieren. Weil er das aus der Zeit gefallene Festival liebt, mit seiner Konzentration auf das Werk eines einzigen Künstlers, seines Seelenverwandten Wagner. Forderungen, den Kanon zu öffnen oder Bayreuth mit einem Off-Festival zu konfrontieren, hält er für Quatsch. "Um junge Leute heranzuholen, braucht man diesen Firlefanz nicht. Da braucht man nur die Tür in Bayreuth aufzumachen. Das ist wie Cape Canaveral."
In Schlingensiefs "Parsifal" entflieht Karsten Mewes' Klingsor schlussendlich dem irdischen Jammertal mit einer Rakete. Zu neuen Taten, teurer Helde
»Schlingesiefs wunderbare Bayreuth-Subversion«
Man hätte ihn verfilmen sollen: Christoph Schlingensiefs "Parsifal" dreht seine vierte, leider letzte Bayreuther Festspielrunde. Die Inszenierung bekam den Spitznamen "Hasifal", weil darin Meister Lampe als Fruchtbarkeitssymbol dient. Eine Inszenierung die den Mythos Bayreuth ehrt und in Frage stellt.
DIE WELT
Eigentlich sieht es auf der Habenseite der Bayreuther Festspiele Wolfgang Wagners nicht so schlecht aus: Nach dem "Arbeiter-Tannhäuser" von Götz Friedrich (auch seinen "Parsifal" im ungestürzten Gralstempel sollte man nicht ganz vergessen) und dem "Jahrhundert-Ring" Patrice Chéreaus von 1976 wurde Harry Kupfers "Holländer" als Sentas Traum eine Wegmarke der Rezeptionsgeschichte.
Ebenso der romantikverliebte nazarenersüße "Lohengrin" Werner Herzogs als antiintellektuelle Utopie, dem wiederum der traumkühl abstrakte Heiner-Müller "Tristan" Kontra bot. Auch die noch roh behauenen "Meistersinger" Katharina Wagners haben dem Stück gerade eine neue, interessante Dimension als Kunstdiskurs zwischen Anpassung und Aufbruch gewiesen, zudem den Sachs so radikal wie nie demontiert. Welches andere Opernhaus weltweit könnte auf eine solche Liste verweisen? Sicher, ein neue überzeugende "Ring"-Sicht vermisst man besonders nach dem Dorst-Flop schmerzlich am Hügel-Horizont. Und dann war da noch der heiß diskutierte "Parsifal" Christoph Schlingensiefs von 2004.
Schlingensief weiß mehr als mancher Wagner-Profi
In seiner finalen Wiederaufnahmerunde (bereits nächsten Sommer folgt eine neue Gralssuche unter Stephan Herheim) wurde er wiederum mit viel Buh, aber mit noch mehr Bravo bedacht. Und man möchte sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn diese inzwischen exemplarisch gewordene Aufführung etwa als Gastspiel bei der Documenta oder der venezianischen Biennale gezeigt worden wäre, statt unter Fastausschluss der Öffentlichkeit vor einem stockkonservativen Wagnerianer-Publikum, das diese ungeliebten Karten im Losverfahren erhalten hat.
Man hätte diese Inszenierung verfilmen müssen, man hätte sie weiter verkaufen können, oder wenigstens durch Live-Übertragung in Kinos von Berlin bis Paris und New York wirklich interessierten Menschen zugänglich machen sollen. Doch es scheint bei den Festspielen keiner gemerkt zu haben, wie diese, wegen des am Ende dominanten, dabei universellen Fruchtbarkeitssymbol eines verwesenden Hasen "Hasifal" genannte Tat der Subversion die Bayreuther Szene wohl auf immer verändert hat.
Sieht man die Aufführung jetzt zum ersten Mal seit der Premiere wieder, wird deutlich, dass augenblicklich einzig Christoph Schlingensief die Demut eines Lehrlings besitzt und Bayreuth in seiner früheren Bedeutung als Werkstatt begriffen hat. Bei seinem "Parsifal" weiß er inzwischen sehr genau, was er wann tut, was er wie beleuchtet oder im Dunkeln lässt. Ob Schlingensief wirklich ein Regisseur ist, mag weiterhin dahingestellt bleiben; jedenfalls kann er eine Bühne gestalten und gliedern, und in seiner Mischung aus Naivität und Abgefeimtheit weiß er über den "Parsifal" inzwischen mehr als mancher Wagner-Profi.
Mit dem Mythos Bayreuth spielen
Die vielfach kreiselnde, aber eben auch stoppende Drehbühne ist entrümpelt, der Symbolwust wurde durchforstet, die Bewegungsvorgänge sind entschlackt. Die Videos sind kanalisiert worden, es findet jetzt auch Personenregie statt. Viele Kostüme wurden geändert, im letzten Akt ist Kundry keine exotische Schwarze mehr, sondern ebenfalls in Weiß - wie Parsifal und Amfortas. Sie scheint, obwohl nach der Taufe entseelt zu Boden gegangen, auch im Schlussbild auf, bevor wiederum Parsifal mit seinem Bischofsstab als heiligem Speer in einem Lichttunnel schreitet.
Es ist alles da: ein Gralstempel, eine Aue (mit Kinderschaukel), sogar ein Kelch und eine Wunde. Kundry wäscht Füße (andere auch), eine Titurel-Puppe liegt in dessen Sarg. Die Verführungsszene zwischen Kundry (im Schleifenkleid) und Parsifal ist immer noch ein Schwachpunkt. Obwohl sie jetzt in einem freudianischen Praxis-Ambiente auf einer Couch stattfindet. Schlingensief zeigt alle Requisiten, aber er ist sich auch einig mit Gurnemanz: was ist der Gral? "Das sagt sich nicht".
So viel Ausdeutung und so wenig Erklärung gab es vor Schlingensief in Bayreuth nie. Glücklicherweise wird das auf der Bühne und im Graben mitgetragen. Adam Fischer dirigiert dienend, fast neutral, schafft diesen Bildern eine klangliche Hülle. Die inzwischen stark tremolierende Evelyn Herlizius ist trotzdem eine starke Kundry, Alfons Eberz ein manchmal schneidend lauter Parsifal, Robert Holl ein gütiger, aber störrischer Gurnemanz, Jukka Rasilainen ein biestiger Amfortas, Carsten Mewes ein auch vokal düsterer Klingsor. Sie alle stehen im Dienst dieser eigenartigen, aber großartigen Aufführung. Die sich dem Mythos Bayreuth würdig erweist - und ihn gleichzeitig in Frage stellt.
»Bye-bye, Bayreuth«
Dernieren auf dem Hügel: "Tannhäuser" und "Parsifal"
Von Eleonore Büning, FAZ
Zu einem zünftigen Gesamtkunstwerk gehört nicht zuletzt auch das richtige Vorhangaufziehen. Die weltberühmte mausgraue "Wagner-Gardine" in Bayreuth wird seit mehr als hundert Jahren alleweil fließend seitlich gerafft und erst anschließend hochgezogen. So verlangt es das Ritual, das Christoph Schlingensief nun gezielt seiner "Parsifal"-Inszenierung eingemeindet hat. So aufreizend langsam legt sich die Gardine in Falten, als wollten die elektrischen Strippenzieher nicht (frei nach Kundry, dritter Aufzug) "Dienen! Dienen!" rufen, sondern nur noch "Schlafen - Schlafen" (erster Aufzug). In jedem Akt scheint dieser Zeitlupenvorhang ein neues Geheimnis zu enthüllen: den gestirnten Himmel, eine lichterkettenbunte Kirmesbude, eine fromme Pietà.
Für eine Sekundenewigkeit sprechen diese Tableaus allein für sich. Dann überstürzen sich die Geschehnisse, beginnt das Schlingensiefsche Multitasking, das Durcheinanderwursteln von Menschen, Tieren, Wundern mit all den Doppelgängern, Voodoozauberern, Terroristen und vor allem großen und kleinen, echten und falschen, lebenden und toten Osterhasen. Zum vierten und bedauerlicherweise letzten Mal ist diese turbulente "Parsifal"-Lesart in Bayreuth zu sehen. Nicht einmal eine Filmaufzeichnung wird es geben von dem Spektakel. Wer es noch erleben will, sollte sich also sputen und sofort mit einem "Suche Karte"-Schildchen auf den Hügel eilen. Die Chancen stehen nicht schlecht, repräsentative Teile der "Freunde und Förderer" sind demonstrativ am Tag vor dieser letzten Premiere abgereist: Sie wollen die "Schande" einfach nicht mehr sehen.
Die vorangegangene Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung stammte noch von Wolfgang Wagner persönlich, sie hielt sich satte zwölf Jahre lang. Wann wurde je ein "Parsifal" so blitzschnell wieder aus dem Programm gekippt? Letztlich wird sich die Festspielleitung mit dieser Entscheidung wohl auch dem Willen der allerstrengsten Wagnerianer gebeugt haben, was viele Hügelschlachtenbummler als ein Zeichen von Führungsschwäche interpretieren, ähnlich wie die Auseinandersetzung zwischen Festspielleitung und "Freunden" um das Loch im Bayreuther Finanzplan. Hätte der streitbare Alte wirklich noch selbst das Heft in der Hand, wer weiß, ob er ausgerechnet eine so offenkundig als Kult sich entpuppende Produktion wie den Schlingensief- "Parsifal" um des lieben Burgfriedens willen aufgegeben hätte. Auch für den Chéreau-"Ring", auch für den Müller-"Tristan" hatte Wolfgang Wagner doch weiland Atem genug.
Schlingensiefs Inszenierung ist ein hervorragendes Exempel dafür, wie Bayreuths Festspielidee selbst die frechsten Provokateure zu zähmen wusste. Als einziger der zur Zeit hier tätigen Künstler hat er den "Werkstatt"-Gedanken verwirklicht und von Jahr zu Jahr vieles verändert, einiges verbessert. Was stehenblieb von der ersten Version, erscheint in den Konturen klarer geworden, schärfer gefasst. Das Ende des ersten Akts, nach der Blutopfer-Prozession rund um die Gralsenthüllung, ist jetzt leergeräumt, Buden und Zelte sind verschwunden, die Bühne ist kahl. Auch hat Schlingensief gelernt, mit Opernsängern umzugehen. Er zieht sichtbar klare Argumentationslinien, die das Hörbare tragen, sorgt für eine nachvollziehbare Gefühlslogik in der Personenregie und nicht zuletzt für hinreißende Bilder.
Die kollektive Fußwaschung ist solch ein Tableau, ebenso Kundrys Taufe und Tod, auch das lustig-lüsterne Sichherumdrücken der Blumenmädchen am Maschendrahtzaun. Sie sind frisch aus dem afrikanischen Busch eingetroffen und singen prächtig. Die schöne Höllenrose Kundry alias Evelyn Herlitzius ist eine glühend intensive Darstellerin, nur ihre Stimme beginnt unter zu starkem Forcieren zu leiden. Gemeinsam mit ihren beiden Rittern Parsifal (auch er brüllt zu laut: Alfons Ebers) und Amfortas (noch lauter: Jukka Rasilainen) muss sie sich im dunklen Wald verstecken vor dem bösen Klingsor. Immer wieder stöbert er die drei auf. Sie fliehen händchenhaltend wie Hänsel und Gretel.
Zwar kommt Klingsor im dritten Aufzug bei Wagner singend gar nicht mehr vor, sein Reich der Negation ist "zernichtet". Doch hat sich Schlingensief auf der rotierenden Drehbühne aus Nomadenbauten und multifunktionalen Kinoleinwänden ein Einsteinsches Raum-Zeit-Kontinuum geschaffen, darin Tod, Auferstehung und Wiedergeburt zu einem Mirakel zusammenfallen. Vielleicht kam bisher kein "Parsifal"-Regisseur dem Raum-Zeit-Gefüge der Wagnerschen Musik näher als Schlingensief. Es gibt keine linear zu erzählende Geschichte mehr in diesem "Parsifal", alles geschieht simultan. Wie die Orchestersprache vor- und zurückblendet, sich erinnernd, vorauswissend-verwandelnd, so verwandelt auch Schlingensief seine Figuren. Sie sterben, verdoppeln sich, kehren wieder. Klingsor, der vom ansehnlich durchtrainierten Bassbariton Karsten Mewes mit zirkusreifen Artistenleistungen bedacht wird, katapultiert sich mit seinem effektvollen Raketenstart im zweiten Aufzug eigentlich nur wieder in die nächste Umlaufbahn.
Im Gegensatz dazu zeigt die zweite Derniere dieser Spielzeit, wie rasch modische Designerarbeit altert und schal wird. Philippe Arlauds beliebte "Tannhäuser"-Inszenierung mit den Nelken, die aus der Decke wachsen, und der elegant in den Schnürboden davonfliegenden Venusgrotte funktioniert in der Wiederholung nicht mal mehr richtig als Märchen für Erwachsene. Auch die Sängercrew im "Tannhäuser" forciert durchwegs aufs Unangenehmste, als müsste die Lautstärke beim Wagnersingen partout aufgedreht werden.
Sie hätten das gar nicht nötig, denn sie werden auf Händen getragen von der flexiblen und durchsichtigen Musizierweise, die der junge Detmolder Dirigent Christoph Ulrich Meyer pflegt. Sein Aufzug der Gäste gerät, nicht zuletzt des Chores wegen, zu einem Glanzstück. Meyer, als einer der Assistenten Christian Thielemanns bestens vertraut mit der "Tannhäuser"-Partitur, ist eine echte Überraschung: Er sprang sehr kurzfristig ein für den Dresdner Generalmusikdirektor Fabio Luisi, der wegen Rückenproblemen abgesagt hatte, danach aber noch einmal in Wien am Pult gesichtet wurde, was ihm in Bayreuth sehr übel genommen wird. Wie anders ein und dasselbe Orchester klingen kann, je nachdem, welcher Dirigent am Pult steht, war am letzten Abend im "Parsifal" zu erfahren. Adam Fischer dirigiert bodenständig, mit sattem Legato: Alle Töne sind da. Aber die feine Binnendynamik, mit der Thielemann oder auch Meyer jede einzelne Phrase modulieren und ins Leben, ins Leuchten bringen, wird von ihm nicht erreicht.
Am Ende winkte Schlingensief fröhlich ins Buh- und Bravo-Gewitter hinüber, seine Fans jauchzten und winkten zurück: bye-bye, Bayreuth. Dies ist ein Gefühl, das auch viele Alt-Wagnerianer zurzeit mit sich herumtragen. Wenn nämlich die Avantgarde-Freaks wie Schlingensief oder Katharina Wagner nicht mehr nur kleine bunte Farbtupfer sind, sondern das Sagen auf dem Hügel haben, werden sie, so fürchten sie, ihre Mitgliedschaft kündigen müssen.
»Ausweitung der Dunkelphase«
Christof Schlingensief war ein Glücksfall für Bayreuth. Ästhetisch hat er - noch entschiedener als Claus Guth ("Holländer") oder Christoph Marthaler ("Tristan") - nach lange zurückliegenden, exemplarischen Öffnungen, längst wieder verschlossene Türen aufgestoßen.
VON JOACHIM LANGE, FR
Als jetzt die letzte Wiederaufnahme dieses ästhetisch nicht nur für Bayreuth grenzgängerischen "Parsifal" den ersten Festspielzyklus des laufenden Jahrgangs abschloss, gab es immer noch ein deutliches Pro und Contra, als der sympathisch strubbelige Weltenkunstbummler vor den Vorhang trat und entspannt den sich durchsetzenden Bravo- und den gegenhaltenden Buhrufern zuwinkte. Doch selbst dem Contra fehlte inzwischen die fanatische Penetranz, die man der Gemeinde gerne nachsagt. Man hat sich nicht nur aneinander gewöhnt.
Subversive Versuchung
Schlingensiefs Bühnenlandschaft sieht nicht nur so aus - sie ist ein Basislager für eine subversive Versuchung der Assoziationslust der Zuschauer. Mit ihren projizierten Überlagerungen der Hütten, Türme, Zäune und Geländer durch die Zeichen, Rituale und Sequenzen des Lebens schlechthin. Wer sich darauf einlässt, der kann im pulsenden, emotionalen Mahlstrom der Bilder erkennend sehen, nachdenkend ahnen oder auch autonome Chiffren hinnehmen. Eine offene Form, an der sich zudem die Werkstatt Bayreuths beispielhaft bewährt hat.
Er habe hier, sagt der an seiner Bayreuth-Erfahrung spürbar gewachsene Christopf Schlingensief in der Pause, unter luxuriösen Bedingungen viel gelernt und jedes Mal auch ausgesprochenes Glück gehabt, wenn der Dirigent oder einzelne Darsteller wechselten.
Allerdings hat er sich auch selbst ernsthaft auf die jährliche Rückkehr nach Bayreuth eingelassen und nachgearbeitet. Diesmal hat er weiter entrümpelt, verschlankt, konzentriert. Freilich auch die zuletzt vorgenommene Zuspitzung auf den Islam, bei den Wandlungen Kundrys und ihres Umfelds, teilweise wieder zurückgenommen und wieder die Vielfalt der Religionsstruktur quer durch Raum und Zeit betont.
Der Filmfreund Schlingensief hat - mit Gewinn für Klarheit und partielle Durchblicke - die Beleuchtung nachjustiert und die Videos abgedunkelt. Es sei überhaupt jene Ausweitung der Dunkelphase zwischen den Bildern, die er vom Film her kenne und die ihn an Wagners Musik fasziniere, sagt der Regisseur, der ja mittlerweile seinen "Holländer"-Ausflug nach Manaos hinter sich hat und ganz enthusiastisch wirkt, wenn vom "Tristan" die Rede ist….
Bei "Parsifal" jedenfalls kommt in diesem Jahr auch eine musikalische Überzeugungskraft im Graben und auf der Bühne hinzu. Sowohl der markante Jukka Rasilainen als Amfortas als auch Alfons Eberz als strahlkräftiger Parsifal profilieren stärker das Leiden. Ebenso überzeugen Evelyn Herlitzius als Kundry und der neue Klingsor Karsten Mewes mit stimmlichem Gestaltungswillen und ihrem spielerischen Einlassen auf Schlingensiefs Bühnenaktionen.
Entspannter Gurnemanz
Selbst Robert Holl, von Beginn an der ins urige Fell gewickelte Gurnemanz, hat mittlerweile zu einer geradezu locker entspannten Spielweise gefunden.
Der vierte und letzte Jahrgang dieses "Parsifal" ist tatsächlich sein bester. Was natürlich auch an Adam Fischer liegt, für den der verdeckte Graben offenbar kein Problem ist und der sich als hochsouveräner Erbe der Einstudierung von Pierre Boulez erweist. Das Festspielorchester ist nach der Vorbereitung mit "Meistersinger", "Tannhäuser" und "Ring" ganz bei sich und seinem magischen Anspruch des Besonderen an diesem besonderen Ort.
»Die Bilder werden bleiben«
Umbruch in Bayreuth - Und Christoph Schlingensief als stiller Gewinner im Hintergrund
VON STEPHAN MAURER, Stuttgarter Zeitung
Auf den ersten Blick ist alles wie immer bei den Bayreuther Festspielen: Auf dem Dach des Festspielhauses weht die weiße Wagner-Flagge mit dem roten W, in den Pausen stehen Herren in Smoking und Fliege an nach Bratwürsten und Bier, ehe Bläser vom Balkon aus die Wagner-Gemeinde mit Fanfaren zum nächsten Akt rufen.
Und doch ist diese Saison, deren Premierenreigen am Donnerstagabend mit einem überraschend positiv aufgenommenen "Parsifal" von Christoph Schlingensief abgeschlossen wurde, anders als jede zuvor. Wie ein Schatten liegt die Frage nach der Zukunft der Festspiele über dem Grünen Hügel. Der bevorstehende Umbruch ist deutlich zu spüren.
Über den Gesundheitszustand des fast 88-jährigen Festspielchefs Wolfgang Wagner gibt es viele Gerüchte. Tatsache ist, dass Wagner in der Öffentlichkeit wohl noch nie so wenig präsent war. Zum Defilee der Ehrengäste erschien er zwar mit Ehefrau Gudrun und Tochter Katharina an der Pforte des Königsbaus. Doch beim anschließenden Staatsempfang fehlte er ebenso wie zwei Tage später bei der Versammlung der Mäzene "Freunde von Bayreuth". Auch Interviews gab er nicht. Wer auf dem Grünen Hügel die Macht in der Hand hält, muss einen schwierigen Spagat vollführen: Einerseits die Festspiele mit neuem Leben erfüllen, andererseits aber die treue und als Geldgeber wichtige konservative Wagner-Gemeinde nicht verprellen. Wolfgang Wagner konnte diese Spannungen mit der Autorität des Wagner-Enkels ausbalancieren. Nun entsteht ein Vakuum, das auch Tochter Katharina, die mögliche Nachfolgerin, noch nicht füllen kann. Die 29-Jährige hat bei ihrem Bayreuther Regiedebüt mit einer respektlosen "Meistersinger"-Inszenierung immerhin viel Staub aufgewirbelt. Zweifellos bringt sie schon jetzt frischen Wind auf den Grünen Hügel.
Unterdessen nimmt einer fast unbemerkt Abschied, der für eine Reformierung der Festspiele möglicherweise mehr getan hat, als bisher deutlich ist: Christoph Schlingensief. Sein "Parsifal" aus dem Jahr 2004, das umstrittenste Bayreuther Werk seit Jahren, geht nach dieser Saison vom Spielplan. Bei der Wiederaufnahme erntete der Regisseur für seine assoziations- und bilderreiche Inszenierung zwar wieder erboste Buhrufe, erhielt aber deutlich mehr Beifall als noch in den vergangenen Jahren. Auch viele Bravorufe waren zu hören, als der Theaterprovokateur zum Abschied ins Publikum winkte. Schlingensief baute die mit Projektionen und Filmeinspielungen bereicherte Inszenierung nochmals um und reduzierte die Aufbauten auf der Drehbühne. Musikalisch bot Dirigent Adam Fischer eine genaue Interpretation und stellte sich einfühlsam auf die Sänger ein. Hier imponierten besonders Evelyn Herlitzius als wandlungsfähige Kundry und Jukka Rasilainen als leidender Gralskönig Amfortas. Alfons Eberz agierte als Parsifal kraftvoll, Karsten Mewes gab einen dämonisch-drohenden Klingsor. Robert Holl sang den Gurnemanz, Artur Korn den Titurel.
"Die Bilder werden bleiben", gab Schlingensief seinem Publikum ironisch als Graffiti-Botschaft mit. Er hat in Bayreuth viele Widerstände überwunden und sicher eine Tür für künftige mutige Regiearbeiten geöffnet. Unverkennbar ist auch sein Einfluss auf Katharina Wagner. Sollte die 29-Jährige im Herbst, wenn der Stiftungsrat der Festspiele über die Nachfolge berät, tatsächlich zum Zuge kommen, so könnte Schlingensiefs Traum wahr werden: Er möchte in Bayreuth den "Tristan" inszenieren.
»Und ewig verwesen die Hasen«
Der reine schräge Tor: Christoph Schlingensief feilt ein letztes Mal an Wagners "Parsifal" in Bayreuth
VON MICHAEL STRUCK-SCHLOEN, Süddeutsche Zeitung
Christoph Schlingensief ist glücklich. Nicht in der Berliner Volksbühne oder im Dschungel von Manaus, sondern in Bayreuth/Oberfranken. Zum vierten und letzten Mal hat er Wagners Parsifal mit blutbesudeltem Burnus über die Drehbühne im Festspielhaus geschickt. Zwar sind die hysterischen Buh-Orgien der vergangenen Jahre nicht in frenetischen Applaus umgeschlagen, wie es Chéreau und Boulez mit ihrem "Jahrhundert-Ring" erging. Dennoch gehört Schlingensief jetzt in das Pantheon der gehätschelten Bilderstürmer. Und er lohnt Bayreuth den Ritterschlag mit einer herzlichen Umarmung: "Extrem stolz" sei das Produktionsteam über den Erfolg, verriet er dem Nordbayerischen Kurier. Seine Selbstempfehlung als Theaterintendant trägt dann so stark den Stallgeruch der Bayreuther Festspiel-Scheune, dass niemand sich wundern würde, wenn man eines Morgens die Nachfolge-Kandidatin Katharina Wagner mit Schlingensief beim Joggen um den Grünen Hügel anträfe...
Aber die lächelnde Versöhnungsgeste (zumal gegenüber dem bärbeißigen Wolfgang Wagner) mildert nicht den heftigen Ruck, mit dem der Theateraktionist aus Oberhausen die Bayreuther Wagnerwelt, einem reinen Toren gleich, aus den Angeln hob. Da hängt sie nun - in wunderbarer Schräglage, frei schwebend und ungreifbar, vielschichtig, videoüberflutet und doch inspiriert von einer Musik, die sich mit ihren ewig wiederholten Motivmantras spiralartig fortbewegt. "Worte, Zeichen, Male" formuliert Robert Holl als Gralsdiener Gurnemanz mit nasalem Samtbariton die vieldeutige Ausstrahlung einer Rätselhandlung, die sich nie auf eine religiöse oder ideologische Deutung verengen lässt. So stößt Schlingensief seine Figuren und Motive in einen ständigen Assoziationsfluss, der seine Farbe von Jahr zu Jahr gewechselt hat.
Von Anfang an bestimmte der schwarze Kontinent die Bestückung der Drehbühne (Daniel Angermayr, Thomas Goerge) mit Hütten, Zäunen, Menschen und Symbolen, die an afrikanische Mythen und ihre Vergewaltigung in den Homelands von Südafrika erinnert. Klingsor, von Karsten Mewes mit kantiger Wucht ausgestattet, erscheint weiter als schwarz glänzender Stammesfürst, seine Gegenspieler Parsifal (Alfons Eberz) und Amfortas (Jukka Rasilainen) kommen als kranke Erlösungssüchtige. Die meisten Wandlungen hat denn auch Kundry erfahren, die Grenzgängerin zwischen der Welt des weißen Mannes und der atavistischen Rituale Afrikas. Im vorigen Jahr hat sie Schlingensief in das Grün des Korans getaucht, mit arabischen Schriftzeichen übermalt, in bonbonfarbenen Kitschorgien verbraucht. Diesmal bleibt sie zwischen eleganter Verführerin und mütterlicher Geliebter klarer, selbstbewusster, "reiner" - eine Spanne, die Evelyn Herlitzius mit gestalterischer Präsenz und dem ganzen Umfang ihres beweglichen, metallisch gehärteten Soprans ausfüllt.
Auch wenn der diesjährige "Parsifal" in seiner Bilderflut reduziert, in den Motiven gestraffter und konzentrierter wirkt, hat doch keiner die gedankliche Verbreiterung einer Regiearbeit so weit getrieben wie Schlingensief - und damit das Bayreuther Werkstattprinzip radikal neu gefasst. Im Bildklangraum der Töne und Videos mit gefräßigen Amöben, afrikanischen Landschaftsbildern, Schlingensief-Aktionen und den sanft verwesenden Hasen werden Figuren stets neu definiert, mit Varianten und Doppelgängern versehen. Von Wagner habe Schlingensief gelernt, dass die Idee von der "schlüssigen" Deutung ebenso hinfällig sei wie das schlüssige Regiekonzept. Dass diese Erkenntnis im "Parsifal" gegen alle wagner-familiären Widerstände umgesetzt wurde, macht die Leuchtkraft dieser Produktion aus. Der nächste Schritt der allmählichen Auflösung des Bayreuther Mythos wäre dann, dass statt der Smokingträger Bayreuther Schulklassen oder der "Hausmeisterverein von Castrop-Rauxel" Zutritt hätten. Womit Schlingensief auch Wagners Uridee vom demokratischen Volkstheater hart auf der Spur wäre.
Freilich würde das Ritual zum Tode in seiner heiteren, ja versöhnlichen Morbidität einen einfühlsameren Dirigenten verdienen als Adam Fischer.
Seine Spannungsbögen wirken forciert und überdehnt, der Streicherklang tönt grob ohne bewusst intendierte Aufrauung - was erstaunlich ist, wenn man das Orchester am Abend davor unter den formenden Händen und Blicken eines Christian Thielemann gehört hat...
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
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