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Jeanne D'Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna
Wiederaufnahme am 30. Oktober sowie am 03. und 11. November 2010 an der Deutschen Oper Berlin
Die Deutsche Oper Berlin erinnert mit der Wiederaufführung von "Jeanne D'Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna" an Christoph Schlingensief.
Der verstorbene Theatermacher hatte 2008 an dem Inszenierungskonzept überwiegend vom Krankenbett aus mitgewirkt. Am 30. Oktober sowie am 3. und 11. November ist das Musikdrama von Walter Braunfels nun in fast gleicher Premierenbesetzung wiederzusehen. Die szenische Uraufführung von 2008 war in der jährlichen Kritikerumfrage zur Wiederentdeckung des Jahres gewählt worden.
Walter Braunfels schrieb seine Oper zwischen 1938 und 42 in der inneren Emigration. Schlingensief deutet Johanna nicht nur als jungfräuliche Kriegerin in Männerkleidung, sondern auch als einen gewöhnlichen Menschen, der arbeitet und leidet, liebt und stirbt. An ihrer Seite: der spätere Kindermörder Gilles de Rais. Schmal ist der Grad zwischen Gut und Böse: Nicht Heilsgewissheit sondern Unsicherheit bestimmt die Handlung. Schlingensief spielt Braunfels' »Passion der Ambiguität« als ritualisierten Leidensweg vom Hospiz zur öffentlichen Totenverbrennung. Profaner Alltag und sakrale Handlung fließen ineinander.
www.deutscheoperberlin.de
Wunder geschehen anders, als wir glauben (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Die Mühe hat sich gelohnt: Schlingensiefs “Johanna” an der Deutschen Oper Berlin
Von Gerhard R. Koch
Der Satz des amerikanischen Malers Willem de Koning, die Kunstgeschichte beeinflusse nicht ihn, sondern er die Kunstgeschichte, gilt generell für das Widerspiel von Vergangenheit und Gegenwart, gerade in der Musik. Selbst die Darmstädter Schule der fünfziger und sechziger Jahre war keineswegs homogen. Erst recht hat die Postmoderne die Avantgarde-Kriterien vielfältig relativiert. Deshalb ist es nicht nur wohlbegründete Wiedergutmachung, wenn in der NS-Zeit verfemte, vertriebene und ermordete Komponisten wie Schreker, Zemlinsky, Korngold, Ullmann, Schulhoff oder Max Brand wieder aufgeführt werden, denen ihre jüdische Herkunft 1933 zum Verhängnis wurde.
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Jeanne D'Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna © Thomas Aurin |
So ging es auch Walter Braunfels, der als Rektor der Kölner Musikhochschule hoch angesehen war. Er musste zwar Deutschland nicht verlassen, verlor aber alle Ämter, durfte sich nicht mehr öffentlich betätigen, überlebte immerhin in der „inneren Emigration“. Zwischen 1945 und 1954 konnte er zwar an frühere Erfolge anknüpfen, doch das musikalische Klima hatte sich gewandelt: Er galt nun als „Traditionalist“, war kaum mehr als eine geachtete Randfigur, ähnlich wie Berthold Goldschmidt, der nach der englischen Emigration bitter feststellen musste, dass der politischen Ächtung nun die ästhetische Verdrängung folgte.
Geschichte als flammender Horror
Braunfels hat, allen Repressalien zum Trotz, nach 1933 weiter komponiert, sogar als Hauptwerk 1938 bis 1942 die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“. Nach konzertanten Aufführungen in Stockholm und München brachte die Deutsche Oper Berlin nun die szenische Premiere. Das „Jeanne d’Arc“-Sujet entsprach nicht nur Braunfels’ Konversion zum Katholizismus, sondern reflektierte auch den NS-Terror: Macht- und Siegesrausch, Verfolgung und Mord sind die Themen, Geschichte als blutig-flammender Horror. An „Johanna“-Dramen, -Opern und -Filmen fehlt es nicht; bedeutendste Adaption bleibt Dreyers epochaler Stummfilm, basierend auf den Prozessakten von 1431. Auf diese griff Braunfels für sein Libretto ebenfalls zurück. Vor allem setzte er einen neuen Akzent, indem er die Rolle des Gilles de Rais entschieden aufwertete, indem er aus dem Kampfgefährten der Heiligen einen Gott- und Sinnsucher machte, der des Heils als Mittel wider die dunklen Mächte in ihm bedarf und erst nach Johannas Ende zum Unheil wird.
Die Berliner Uraufführung konfrontierte mit einem textlich wie musikalisch fesselnden Stück, das einmal mehr belegte, wie wichtige Komponisten dem ominösen „Urteil der Geschichte“ zum Opfer fielen: auch eine ästhetische Passionsgeschichte. Braunfels schrieb eine große Oper mit ausladenden Chorpartien und plastisch differenziertem Relief. Mit archaisierendem Pseudo-Mittelalter hält sie sich zurück, wahrt trotzdem einen herben Duktus, dessen Espressivo gerade in der Sparsamkeit beredt ist, etwa in den Halbton-„Johanna“-Seufzern des Schlusses. Auch wenn dieser im „Lohengrin“-A-Dur steht, fehlt ihm doch alles Apotheotische.
Im Kräftefeld der Heilserwartungen
Braunfels’ Oper „vom Blatt“ zu inszenieren hätte das Stück zum Historien-Spektakel entwertet und die Perspektiven verengt. So war es ein Segen, dass Christoph Schlingensief sich mit dem Stück identifizierte und es als Heils-Pandämonium konzipierte, ein ikonographisches Puzzle mehr in der Bosch-Buñuel-Tradition als im Mittelalter-Bild, darin gleichwohl sehr katholisch. Wie bei seinem Bayreuther „Parsifal“ hat Schlingensief filmisch-surrealistisch disparate Schichten übereinanderkopiert: ein Gewirr von Bedeutungsebenen, multipler individueller Mythologien. Die plane Legende interessiert ihn nicht im mindesten.
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Jeanne D'Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna © Thomas Aurin |
Schlingensief setzt nicht nur auf die Schreckens-Szenen, sondern auch aufs Kräftegeschiebe der Heilserwartungen. So konterkariert er eingangs Johannas Flammentod mit Filmaufnahmen der Totenverbrennung in Nepal, wobei sich Bilder eines anderen Verständnisses von Leben und Sterben, Alltag und Touristengetriebe verwirrend amalgamieren. Nun sind Ketzerverbrennung und Leicheneinäscherung nicht vergleichbar, doch Schlingensief geht es um verschiedene Aggregatzustände religiösen Wahns, wüste Verformungen der Wirklichkeit, Zeitreisen zwischen 1430 und heute.
Groteske Liturgie
Und alle sind Freaks. Gilles de Rais, der „Blaubart“, höllische Kinderschänder und -mörder, trägt eine Goldmaske und erstrebt das Heil; doch wenn bei der stroboskopüberzitterten Krönung in Reims ein Riesenherz, Johannas nicht verbranntes, enthüllt wird, kann er seine kannibalistische Gier kaum zügeln. Dem König ist ein Double zugesellt, halb Lustknabe, halb Spastiker, Johannas braver Vater mutiert zum Bischof, der zeitunglesend in der Kutsche fährt, derweil per Video das Haus im Grünen winkt. An solchen Doppel-Kodierungen mangelt es nicht. Und selbstverständlich changiert Johanna vom Landmädchen im weißen Hemd zur Heroine, dann zum Opfer der Weißkittel - und ihr Scheiterhaufen zur Riesentorte, dem sie bonbonfarben drapiert, gleichwohl schwarz entsteigt.
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Jeanne D'Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna © Thomas Aurin |
Das Ganze wirkt wie eine Summe liturgischer Rituale, die sich gegenseitig grotesk relativieren. Gezielte Verkleinerungen und Vergrößerungen gehören zum Prinzip ständiger Transformationen, geben dem Abend sein unheimlich Unberechenbares. Wunder geschehen, aber anders als erwartet. Insofern war es ein bewegender Theaterabend, ein manieristisches „Concetto“ gewiss, aber von intensivem Ernst. Schlingensief, erkrankt, konnte die Proben nicht leiten; aber ein Team ihm Verpflichteter hat hingebungsvoll seine Intentionen befolgt und weitergeführt. Das Ergebnis spricht für sich.
Zugleich war es ein beredtes Zeugnis des Leistungsvermögens der Deutschen Oper. Ulf Schirmer realisierte die Partitur, bei schwieriger Materiallage, mit Orchester und Chor nachdrücklich, brachte die Musik eindringlich zum Sprechen und machte zeitbedingte Schwächen vergessen. Die Riesenpartie der Johanna wurde von Mary Mills vokal wie in der Bühnenpräsenz mit großer Identifikationskraft, gerade in den Brüchen, bewegend realisiert, Morten Frank Larsens Gilles de Rais war nicht nur baritonal imposant in seiner Zerrissenheit, Lenus Carlsons Trémouille war ein markanter Realo-Zyniker, Daniel Kirch ein schwächlich dandyhafter König. Die Mühe hat sich gelohnt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.8.2008
Materialübersicht zu Jeanne D'Arc
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Projekt-Dossier
- Übersicht
- Jeanne D'Arc Galerie
- UND AM ENDE WARTET DER TOD (FR)
- WIEDERGEBURT MIT TOTENRITUALEN(NZZ)
- WUNDER GESCHEHEN ANDERS, ALS WIR GLAUBEN (FAZ)
- SCHLINGENSIEF- TRIUMPH (WELT)
- PASSION DER AMBIGIUTÄT (Dt. Oper Berlin Magazin)
Jeanne D'Arc Trailer
Deutschlandfunk: Tragische Heiligen- legende (MP3, 1.6 MB)
Deutschlandradio: Sakrale Töne am Krankenbett (MP3-Datei, 3.2 MB)
Externe Links
- Deutsche Oper Berlin

Jeanne D'Arc -
Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna
Deutsche Oper Berlin
Premiere am 27.04.2008
Dichtung nach den Prozessakten; Text und Musik von Walter Braunfels
Musikalische Leitung: Ulf Schirmer
Idee, Konzeption: Christoph Schlingensief
Regieteam nach Aufzeichnungen von Christoph Schlingensief: Anna-Sophie Mahler, Carl Hegemann, Søren Schuhmacher
Bühne, Konzeption: Thomas Goerge, Thekla von Mülheim
Kostüme: Aino Laberenz;
Ausstattung Mitarbeit: Bernd Damovsky;
Film / Video: Kathrin Krottenthaler;
Videotechnik: Konstantin Hapke;
Dramaturgie: Carl Hegemann, Katharina John;
Chöre: William Spaulding;
Einstudierung Staats- und Domchor Berlin: Kai-Uwe Jirka
St. Michael: Paul McNamara;
St. Catharina: Anna Fleischer;
St. Margarete: Julia Benzinger;
Karl von Valois, König: Daniel Kirch;
Erzbischof von Reims: Nathan Myers;
Cauchon, Bischof von Beauvais: Peter Maus;
Vicar Inquisitor: Simon Pauly;
Johanna: Mary Mills;
Jacobus von Arc: Ante Jerkunica;
Colin: Paul Kaufmann;
Gilles de Rais: Morten Frank Larsen;
Herzog de la Trémouille: Lenus Carlson;
Herzog von Alencon: Jörg Schörner;
Ritter Baudricourt: Markus Brück;
Lison: Nicole Piccolomini;
Bertrand de Poulengy: Clemens Bieber;
Florent d'Illiers: Nathan Myers;
Page: Laura Borgwardt;
Salisbury: Nathan Myers;
Hohepriesterin: Karin Witt;
Tänzer: Marcos Abranches
Chor der Deutschen Oper Berlin
Staats- und Domchor Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin

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